Beschleunigung und Verdichtung des Arbeitslebens ziehen mit der Digitalisierung weiter an: Der letzten TK-Stressstudie zufolge sagen 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland, dass ihr Leben in den vergangenen drei Jahren eindeutig stressiger geworden sei.
Stressfaktor Nummer Eins ist: Der Job. Darauf folgen die eigenen Ansprüche und vielen Verpflichtungen in der Freizeit. Je höher Bildungsgrad und Einkommen, desto höher steigt der Level des Stress: Ein Viertel der Hochschulabsolventen fühlt sich gestresst. Bei den Menschen in Haushalten mit mehr als 4000 Nettoeinkommen sind es sogar zwei Drittel.
Gehören neben Erfolgsdruck und Überstunden auch noch Pendeln und Dienstreisen zum Arbeitsalltag, sind längere Ausfälle programmiert. Zumal das Selbstbild oft nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Was Experten raten, wie Sie das Wohlbefinden im Arbeitsalltag steigern und den Stress reduzieren
Oliver Haas, Gründer von corporate happiness hat bei der Beratung einer deutschen Hotelkette folgendes erlebt: „Ein Koch war mit seiner Arbeit immer unzufriedener. Er nahm sich Zeit für eine Selbstreflektion und kam zu dem Schluss, dass der Beruf eher Wunsch seines Vaters war und er sich viel lieber mit Zahlen und Tabellen befasst. Nun ist solche eine Erkenntnis Risiko und Chance zugleich. Er fasste sich ein Herz und sprach seinen Geschäftsführer an. Dieser verstand sofort, dass er den Koch, nicht aber den Mitarbeiter verlor. Beide wagten auch ohne Berufserfahrung den Versuch, eine Position im Controlling zu besetzen. Heute ist er Chef-Controller und er und sein Unternehmen haben profitiert."
Gina Schöler ist die Gründerin des Ministeriums für Glück und Wohlbefinden. Sie rät: „Alles auf einmal ist einfach keine gute Strategie. Was hilft? Atmen. Innehalten. Pausen-Taste drücken und sich überlegen, was Priorität hat. Und dann: Eins nach dem anderen. Dann wird das E-Mail-Fach abgeschaltet, bis der Artikel geschrieben ist. Das Telefon stumm gestellt, bis der Workshop fertig ist und das Interview so gelegt, dass der Hund (und man selbst!) an die frischen Luft kommt. So einfach und so effektiv! Und doch muss man sich regelmäßig immer wieder selbst daran erinnern“.
Kai Ludwigs, Direktor der Happiness Research Organisation, einem unabhängigen Forschungsinstitut zur Messung von subjektivem Wohlbefinden und Glück, rät: „Viele Menschen haben in beruflichen Stresssituationen den Eindruck, dass sie noch häufiger ihre E-Mails checken müssen, noch erreichbarer sein müssen. Dies führt zu zusätzlichem Stress und somit häufig zu schlechteren Entscheidungen. Derzeit machen wir ein Experiment mit Arbeitnehmern in dem eine Gruppe ihre E-Mails nur am Arbeitsplatz lesen darf und nicht zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit. Wir gehen davon aus, dass sich hierdurch das allgemeine Wohlbefinden 0,3 bis 0,5 Punkte auf einer 0-10er Glücksskala steigern lässt und das Stresslevel sinken wird.“
Dorette Segschneider ist Führungskräftecoach und berichtet aus ihrer Praxis: „Die täglichen - scheinbar endlosen - Fahrten haben Anna als Vorstand eines Unternehmerverbandes in den Burnout getrieben. Zu ihrem Business gehörten zwischen 200 bis 500 Kilometer Fahrtstrecke täglich. Vor allem die Sinnlosigkeit der Zeit, die sie im Auto verbrachte, nagte an ihrem Innenleben. Die Lösung war einfach und effektiv: Das Erlernen einer neuen Sprache während der Fahrten - in ihrem Fall Spanisch. Am Anfang hörte sie ausschließlich Grammatik-Einheiten und inzwischen auch leichte Hörbücher. Zur Entspannung dann spanische Lieder. Die Erfolgserlebnisse, die sie beim Sprachen lernen hatte, brachten ihr zusätzliche Motivation für den ganzen Tag.“
Pia Michel und Justine Lagiewka von Good Work Good Life berichten von einer Erfahrung als Führungskräfte-Coaches: „Matthias ist Einkaufsleiter eines großen Lebensmittelkonzerns und kam zu uns, da er mit seinem Job sehr unzufrieden war. Erschwert wurde seine Situation dadurch, dass seine Chefin ihn „auf dem Kieker“ hatte.
Er hatte schon oft überlegt, was er selbst ändern könnte, doch keine zündende Idee. Unser Impuls war, gemeinsam mit anderen Personen ein Brainstorming zu machen. Das erweiterte sofort seine Perspektive und er entwickelte daraufhin ein innovatives Konzept zur Zusammenarbeit mit Lieferanten, das sich zugleich noch werbewirksam für das Unternehmen einsetzen lässt. Und aus dem unmotivierten Problemmitarbeiter wurde ein glücklicher Vorzeigemitarbeiter mit Gehaltserhöhung.“
„Gerade viel beschäftigte Manager haben häufig das Gefühl, sie bräuchten Pausen nicht wirklich dringend. Tatsache ist allerdings: Unser Gehirn kann nur im entspannten Modus kreative Prozesse durchführen oder wohl überlegte Prioritäten setzen. Im gestressten Zustand schalten wir auf Autopilot und spulen gewohnte Handlungen ab. Ohne Pause kann man also viel ackern, aber wirklich effizient und flexibel arbeitet man so nicht“, sagt Diplom-Biologin Kleinschmidt. Das fühle sich dann zwar geschäftig an, sei in der heutigen Arbeitswelt aber weder angemessen noch dauerhaft zielführend.
Mehr Achtsamkeit, mehr Widerstand(skraft)
Besonders Managern falle es schwer, sich vom maskulinen Stereotyp des ständig ackernden Geschäftsmannes zu lösen, bestätigt auch Marketingleiter Boris K.. Nach einigen Firmenfusionen und Change-Prozessen, die ihm körperlich und seelisch an die Substanz gegangen sind, findet er nun Ausgleich und Durchhaltevermögen in Yoga und autogenem Training – und einem Achtsamkeitskurs: Bewusstes Essen, Gehen, Atmen und Gedanken lenken – hört sich einfach an, haben aber viele verlernt.
„Dabei ist das nichts für Warmduscher. Hier geht es an falsche Glaubenssätze und schädliche Angewohnheiten, die es zu hinterfragen gilt. In den USA hat längst jeder seinen Psychiater, in Deutschland werden selbst solche Kurse unter anderen Titeln getarnt.“ Und in der Tat: Kurse wie „Real men do Pilates“, „Power Yoga“, Selbsterfahrungstrips in der Wildnis – oder zumindest im Wildgehege nebenan – boomen.
Alle haben sie etwas gemeinsam: Sie schaffen gezielte Auszeiten, in denen der Mensch sich bewusst nach innen wendet und alles andere ausblendet. Das lehren hiesige Religionen wie fernöstliche Philosophie schon seit Jahrtausenden gleichermaßen. Und dazu bedarf es weder einer Klosterwoche in Bayern noch eines Yoga Ashrams in Indien.