Mein Patient war ein erfolgreicher Geschäftsmann: Er verkaufte die Kosmetikprodukte seines Arbeitgebers an Friseure und Nagelstudios mit derart viel Leidenschaft und Charme, dass er jahrelang zu den Mitarbeitern mit den höchsten Provisionen zählte. Das Geld und die Anerkennung hatten ihn glücklich gemacht, die Kundinnen lagen ihm zu Füßen. Er hatte es durch harte Arbeit geschafft, die einfachen, engen Verhältnisse seiner Kindheit hinter sich zu lassen und sich das Leben aufgebaut, von dem er geträumt hatte.
Als das Rentenalter in Sichtweite geriet, wurde er durch plötzliche Todesfälle in seinem Umfeld erschüttert: Zwei Bekannte starben plötzlich und ohne, dass eine Ursache gefunden werden konnte; ein langjähriger Arbeitskollege nahm sich, vom Verkaufsdruck übermannt, das Leben. Plötzlich bemerkte er Unregelmäßigkeiten in seinem Herzschlag, die er nicht einordnen konnte.
Auf der Autobahn blieb ihm eines Tages die Luft weg, er bekam Ohrensausen, Schweißausbrüche und Angst, er könnte einen Herzinfarkt haben.
Die kardiologischen und internistischen Untersuchungen allerdings blieb ohne Befund, körperlich war mein Patient gesund – er hatte eine Panikattacke erlitten, der weitere folgten. Seine diversen Ängste – vor dem plötzlichen Herztod, davor, den Anforderungen des Arbeitgebers nicht mehr gewachsen zu sein oder das Bild des starken, im Leben stehenden Familienvaters nicht mehr aufrechterhalten zu können – hatten sich aufgestaut und in der Panikattacke plötzlich entladen.
In acht Schritten zum Burn-Out
Es beginnt alles mit dem Wunsch, sich zu beweisen. Dieser aber treibt einen in den Zwang, sich noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten bzw. es allen recht zu machen. Man nimmt jeden Auftrag an, sagt immer seltener Nein. Jettet von Termin zu Termin. Und nimmt abends Arbeit mit nach Hause.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Man nimmt seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahr. Schläft zu wenig, isst hastig oder gar nichts. Sagt den Kinobesuch mit Freunden ab.
Man missachtet die Warnsignale des Körpers, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, flaches Atmen, Konzentrationsschwäche.
Um wieder funktionieren zu können, greifen manche zu Drogen wie Schmerzmitteln, Schlaftabletten, Alkohol, Aufputschern.
Das eigene Wertesystem verändert sich. Die Freunde sind langweilig, der Besuch mit dem Kollegen im Café verschwendete Zeit. Die Probleme mit dem Partner oder Familie nimmt man einfach nicht mehr wahr. Man zieht sich zurück aus gesellschaftlichen Kontakten. Und endet oft in völliger Isolation.
Die Persönlichkeit verändert sich. Alles dreht sich nur noch darum, zu funktionieren, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen werden verdrängt. Man verliert den Humor, reagiert mit Schärfe und Sarkasmus, empfindet Verachtung für Menschen, die das Faulsein genießen. Man verhärtet.
Man verliert das Gefühl für die eigene Persönlichkeit. Spürt nur noch Gereiztheit, Schmerzen, Erschöpfung, Überlastung, Angst vor einem Zusammenbruch. Und sonst nichts mehr. Keine Freude, keine Fröhlichkeit, keine Neugierde. Der Mensch funktioniert wie eine Maschine. Die Seele erstarrt.
Die wachsende innere Leere, genährt von dem Gedanken "Wenn ich nicht arbeite, was bin ich dann?", führt zur Depression, zur völligen Erschöpfung, zum Zusammenbruch, zum Ausgebranntsein.
Glücklicherweise schafften es die Ärzte relativ schnell, die richtige Diagnose zu stellen und ihn in die richtige Behandlung – eine Psychotherapie – zu bringen. Da Panikattacken – wie die meisten psychischen Probleme – in der deutschen Gesellschaft eher stigmatisiert und tabuisiert werden, dauert es nicht selten Jahre, bis Patienten von der Vorstellung einer gefährlichen kardiologischen Symptomatik abrücken können und sich in psychologische Behandlung begeben. Dabei erfüllen nach neueren Studien etwa 3,5 Prozent der deutschen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens die Kriterien für eine Panikstörung, leiden also unter immer wieder aus scheinbar heiterem Himmel auftretenden Panikattacken.
Der erste Schritt einer Behandlung ist dabei in der Regel die Aufklärung über die Angstsymptomatik.
Das Angstsystem im Gehirn ist sensibel und schnell an bestimmte dafür anfällige Reize, wie etwa Spinnen, einen erhöhten Herzschlag oder enge Räume konditionierbar, tritt also in diesen Situationen immer wieder auf. Auch und insbesondere Stress und Überforderung bringen dieses System dann aus dem Gleichgewicht. Dass Panikattacken nicht lebensgefährlich sind, ist für viele Patienten eine wichtige und entlastende Erkenntnis, ebenso wie die Tatsache, dass sie mit der Problematik nicht alleine sind. Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen werden gerade für Angstpatienten oft als sehr hilfreich erlebt.
Der nächste Schritt ist meist die geplante Konfrontation mit angstbesetzten Situationen. Auch mit angstbesetzten Vorstellungen wie dem plötzlichen Tod oder geringerer Leistungsfähigkeit müssen Betroffene konfrontiert werden, während am besten gleichzeitig das Stresslevel reguliert wird. Auch Entspannungsmethoden und körperliche Betätigung helfen so dabei, Ängste zu besiegen.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Nachdem ich mit meinem Patienten dessen Ängste strukturiert hatte, stellten wir uns verschiedene Fragen. Was wäre, wenn er plötzlich einen Herzinfarkt erleiden würde? Was würde er verpassen? Gäbe es etwas, was er bedauern würde? Was müsste er noch erledigen, damit er dem Tod zufrieden begegnen könnte? Was würde es für ihn bedeuten, wenn er zum Pflegefall würde, anderen zur Last fallen würde? Wie könnte er es schaffen, auch dann glücklich zu sein, wenn er nicht unter den besten Verkäufern Deutschlands wäre?
Durch die Konfrontation mit dem Gedanken, mal nicht mehr zu sein, fing mein Patient an, bewusster zu leben – etwas, das auch viele Überlebende schwerer Krankheiten oder Mitarbeiter von Hospizen häufig berichten.
Die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit kann ein wichtiger Schritt zu einem glücklichen Leben sein. Mein Patient hatte sein Leben lang gerne gearbeitet, es war für ihn eine wichtige Quelle von Glück und Selbstvertrauen. Deswegen plante er während der Reha eine Wiedereingliederung in den Beruf, damit er bis zum verdienten Ruhestand noch ein Jahr arbeiten konnte – nicht aber ohne seine hohe Ansprüche an seine Leistungen vorher zu senken. Der bewusstere Umgang mit sich selbst durch Sport, Entspannung und soziale Kontakte hatte auch seinen Blutdruck herunterreguliert – beste Voraussetzungen, um einem Herzinfarkt tatsächlich aus dem Weg zu gehen.
Geritt Müller heißt eigentlich anders. Er arbeitet als Psychotherapeut in einer Klinik im Sauerland. Um die Identität seiner Patienten zu schützen, und damit er freier schreiben kann, haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.