WirtschaftsWoche: Den Deutschen wird gerne nachgesagt, sich über Leistung zu definieren. Tatsächlich sind wird erfolgreich: Reise-, Export- und Fußballweltmeister. Also ist doch alles gut?
Stephan Grünewald: Deutschland geht es wirtschaftlich gut. All die Erfolge führen aber dazu, dass wir mit Blick in die Zukunft das Gefühl haben, dass sich die Lage eigentlich nur verschlechtern kann. Deshalb richten wir uns in einem Zustand der permanenten Gegenwart ein. Wir wollen gar nicht nach vorne gucken, weil wir dann das Gefühl bekommen, dass direkt die Krisen in unser Land schwappen.
Zur Person
Stephan Grünewald ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung. Der Diplom-Psychologe und ausgebildete Psychotherapeut ist ein gefragter Experte in Fernsehen, Wirtschaft und Presse. 2013 erschien sein Buch "Die erschöpfte Gesellschaft –warum Deutschland neu träumen muss", das sich mit dem Leistungsdruck in der deutschen Gesellschaft beschäftigt.
Also verdrängen wir unsere Befürchtungen?
Genau. Die beste Art, bestehende Zukunftsängste auszublenden, ist, sich in einen Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit zu stürzen. Wir dynamisieren im übertragenen Sinn das Hamsterrad, in dem wir uns täglich befinden, damit wir uns mit möglichen Krisen nicht auseinandersetzen müssen. Indem wir das Hamsterrad drehen – also die Anforderungen erhöhen –, erleben wir kleine Erfolge.
Wie sieht das konkret im Alltag aus?
Viele Menschen berichten mir, dass sie nur noch von einem Termin zum anderen hetzen, sodass sie am Ende des Tages gar kein Gefühl mehr dafür haben, was sie geleistet haben.
Denn in vielen deutschen Unternehmen hat sich eine Erschöpfungskonkurrenz etabliert: Die Wettbewerber brüsten sich damit, wie hoch ihre Belastungen sind. Es geht keiner montagmorgens ins Büro und sagt, dass er an diesem Tag in Ruhe seine Aufgaben abarbeiten will und dann noch die Blumen gießt.
Sobald man bei der Arbeit ist, setzen die meisten die Kollegen darüber in Kenntnis, wie aktiv sie am Wochenende waren und welche Lasten sie noch schultern müssen. Es gibt somit in deutschen Betrieben einen internen Wettbewerb um den Titel des Verausgabungsweltmeisters.
Kommt der Druck denn vom Chef oder findet er nur in unseren Köpfen statt?
Sowohl als auch. Seit der Wirtschaftskrise gibt es von der Unternehmensseite viele Maßnahmen, um Arbeitsprozesse noch effizienter zu gestalten. Es werden Belegschaften zusammengekürzt, der Einzelne muss mehr Verantwortung übernehmen.
Andererseits fügen sich die meisten Deutschen diesen Anforderungen bereitwillig. Schließlich gibt der Erschöpfungszustand ihnen das Gefühl, Leistung erbracht zu haben.
Das war früher anders?
Ich beobachte seit einigen Jahren einen Paradigmenwechsel vom Werkstolz hin zum Erschöpfungsstolz. Das heißt, früher waren wir stolz auf ein Werk, das wir erstellt haben und waren noch in der Lage, am Ende des Tages im übertragenen Sinn einen Schritt zurückzutreten, und das Geschaffene zu bewundern. Heute kommt es darauf an, wie erschöpft man ist.
Und das ist ein deutsches Phänomen?
Dieser Erschöpfungsstolz ist ein Phänomen der westlichen Welt. Aber vor allem die Deutschen definieren sich hauptsächlich über ihre Leistung. Die Erschöpfung wird zum Gradmesser der eigenen Produktivität. Je erschöpfter man ist, desto mehr hat man das Gefühl, am Tag etwas geleistet zu haben.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Warum ist das ausgerechnet in Deutschland so?
Deutschland ist ein Land ohne fest verwurzelte Identität. Durch die zwei Weltkriege haben wir geschichtliche Brüche, die es dem Volk schwer gemacht haben, eine klare Identität zu bilden.
Deshalb sind wir immer auf der Suche nach unserer Selbst – und wollen dabei auch erfolgreich sein. Deshalb haben vor allem wir Deutschen dieses Leistungsethos.
Und in anderen westlichen Nationen?
In anderen Nationen wird der Stolz durch eine nationale Identität abgefedert. In Frankreich gibt es zum Beispiel eine ausgeprägte Pausen- und Genusskultur. Geschäftsbeziehungen beginnen dort nicht direkt mit dem Sprung in die Verhandlungen, sondern es findet in der Regel erst einmal ein gemeinsames Essen statt.
Gibt es Regionen, in denen der Erfolgsdruck höher ist als hierzulande?
In den asiatischen Ländern. Dort steht meist jede Minute unter einem Effizienzdiktat.