Kulturwandel heißt das Stichwort, das gleichzeitig ein fürchterliches Buzzword ist. Es klingt nach Tischkicker in der Werkshalle bei Siemens, Gratis-Smoothies in der Teeküche des Finanzamtes Köln-Ost und so, als solle jetzt jeder schwäbische Maschinenbauer irgendwie ein bisschen mehr Berlin sein. Darum geht es aber gar nicht.
Sondern vielmehr darum, Menschen mit Visionen nicht mehr zum Arzt zu schicken, sondern ihnen zuzuhören und Handlungsspielräume zu geben.
Automatisierung ja, Kreativität nein
Damit tut sich die deutsche Wirtschaft mehrheitlich noch schwer, wie die aktuelle Studie "Roboter, Rebellen, Relikte. Überkommene Strukturen behindern die Digitale Transformation" der Technologieberatung Bearing Point zeigt. Demnach tun sich die Deutschen bei allem leicht, was Effizienzsteigerung und Kostensparen heißt – wo der Ingenieur eine Schraube fester anziehen muss – neue Leistungen, Produkte oder neue Geschäftsmodelle werden dagegen kaum in Betracht gezogen.
Was eine intakte Unternehmenskultur ausmacht
Wer zukunftsfähig bleiben will, muss sich an den Impulsen orientieren, die seine Kunden vorgeben.
Nur wer hinter den Produkten und Leistungen seines Unternehmens steht, trägt zu dessen Weiterentwicklung bei.
Wer von seinen Mitarbeitern Orientierung an vorgegebenen Werten erwartet, muss diese verbindlich kommunizieren.
Damit die Kultur das ganze Unternehmen durchdringt, müssen Führungskräfte diese Werte glaubhaft vorleben.
"Digitale Vordenker werden nicht systematisch gesucht und es fehlt bereits im Recruiting an Maßnahmen zur Förderung von digitalen Visionären", sagt Carsten Schulz, Partner bei BearingPoint. "Somit gibt es zahlenmäßig nicht nur wenige Vordenker, sie werden auch unzureichend eingebunden und haben kein unterstützendes Netzwerk. Dies macht sie zu großen Teilen handlungsunfähig und ihre Kraft, etwas im Unternehmen zu ändern, ist daher eher gering." Das zu ändern, ist Kulturwandel in Reinform und wird in der Regel durch kreative Ideen der so befreiten Mitarbeiter belohnt.
Mittwochvormittag ist meetingfrei
Das muss nicht zwangsläufig mit hohen Kosten und pompösen Kampagnen einhergehen. Bei Otto gebe es beispielsweise am Mittwochvormittag keine Meetings, wie Pietsch erzählt. Kein Tischkicker, kein Obst – bloß freie Zeit, um Liegengebliebenes abzuarbeiten oder mit Kollegen an Ideen zu basteln, die über den Versand von Unterhosen und Küchenmöbeln hinausgehen. Aus diesen Freiräumen ist zum Beispiel "Otto Action" hervorgegangen. Dahinter verbirgt sich ein Voice-Commerce-Projekt: also bestellen per Sprachbefehl. Wer seit dem 24. Oktober zu seinem Google-Sprachassistenten sagt "Ok, Google. Rede mit Otto", bestellt eben nicht per Google eine Hose bei Otto, sondern kann sich mit der Software unterhalten und ihr Fragen zu Rabatten oder Sonderangeboten stellen.
Natürlich eigne sich nicht jede Idee und jedes Projekt dazu, mit vollem Elan verfolgt zu werden. Aber Wertschätzung und Raum zum Experimentieren bekomme jeder, der eine Idee habe. Pietsch: "Ich habe immer wieder Azubis, denen ich zu Beginn ihrer Zeit in meiner Abteilung sage: Ihr könnt etwas machen, was ihr später braucht – oder was Cooles. Wobei ich fest davon überzeugt bin, dass sie beim Geheimprojekt "Ursula" auch etwas für ihr späteres Berufsleben lernen können."
Pietschs Azubis sind im Konzern aber kein Einzelfall. Allgemein ermöglicht Otto es seinen Lehrlingen, neben Berufsschule und klassischer praktischer Ausbildung, selbstständig eigene Projekte zu entwickeln. So viel Freiheit ist nicht in allen Firmen denkbar. Kreativität ist gewollt, aber bitte von neun bis fünf, heißt es oft. Studien und Positivbeispiele wie das von Otto zeigen jedoch: Wer aufhört, sich an Strukturen festzuklammern und stur nach Kosten-Nutzen-Kalkulation vorzugehen, gewinnt. Auch wenn das Geschäftsmodell nicht immer gleich so klar ist, wie bei "Otto Action".
Was die Kreativität fördert
Der Psychologe Travis Proulx von der Universität von Kalifornien ließ Probanden sinnfreie Passagen aus Kafkas "Landarzt" lesen. In anschließenden Tests fanden sie mehr Lösungswege und schnitten besser ab als diejenigen, die eine redigierte Version gelesen hatten.
Frank Fischer von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität analysierte die Gruppenarbeiten von 300 Studenten. Vorher hatte er den Raum mit höhenverstellbaren Tischen ausgestattet. Siehe da: Teilnehmer, die zwischen Sitzen und Stehen wechselten, kamen häufiger zu richtigen Ergebnissen als nur im Sitzen - und hatten 24 Prozent mehr Ideen.
Im Schlaf findet kombinatorisches Denken statt, wie Denise Cai von der Universität von Kalifornien in San Diego 2009 bestätigen konnte. Sie ließ 77 Teilnehmer verschiedene verbale Aufgaben lösen, einige Probanden konnten zuvor ein Nickerchen halten - die lösten die Aufgaben am besten.
Der Sozialpsychologe Jens Förster von der Jacobs-Universität Bremen fand in einer Studie heraus, dass die Teilnehmer eine kniffelige Aufgabe eher lösten, wenn sie zuvor an ihren Partner gedacht hatten. Der Gedanke an Liebe lässt in die Zukunft blicken - was dabei hilft, Dinge miteinander in Beziehung zu stellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
In blauer Umgebung steigt der Einfallsreichtum. Ravi Mehta und Rui Zhu von der Universität von British Columbia in Vancouver ließen Freiwillige im Jahr 2009 verschiedene Aufgaben lösen - roter Hintergrund verbesserte zwar die Leistung bei der Detailaufgabe, blau jedoch die Kreativität.
Auch bei "Ursula" ist sich Pietsch noch nicht sicher, wie sie einmal Geld verdienen soll. Als eigene Firma? Als individuelle Lösung für Partner, Mitglieder der Group? "Natürlich haben wir motivierte Mitarbeiter, die für das Thema brennen und auch die Freiräume bekommen, sich damit zu beschäftigen. Wir sind aber noch längst nicht so weit, um damit Business Cases zu rechnen", sagt ein Sprecher der Gruppe. Des Weiteren arbeite die Gruppe an anderen, derzeit für sie relevanteren Zukunftsthemen, wie künstliche Intelligenz, Voice Commerce und Machine Learning.
Trotzdem waren die Reaktionen auf "Ursula" bisher durchweg positiv, sagt Pietsch. Er hat das Projekt auf verschiedenen VR- und Big-Data-Konferenzen vorgestellt, um das Interesse zu prüfen. Er wollte wissen, ob er sich der Aufwand lohnt.
Sein Fazit: "Derartige Projekte sind auch für andere Branchen durchaus denkbar." Dieses Jahr werde "Ursula" aber keine großen Schritte mehr machen. Ab November hat Pietsch allerdings wieder einen Azubi in seinem Team, der sich für „was Cooles machen“ entschieden hat.