Wenn Felix Sonnet eines nicht ausstehen kann, ist es Stillstand. Seit knapp zehn Jahren arbeitet der 38-Jährige bei der Deutschen Telekom – und in dieser Zeit hat er seine Aufgaben und Tätigkeiten häufiger gewechselt als manche Menschen in ihrem gesamten Berufsleben.
Sonnet hat in der Hauptzentrale in Bonn gearbeitet und bei T-Mobile in Seattle, hat sich um Diversity-Themen gekümmert, um die Förderung von weiblichen Führungskräften und um neue Gehaltsmodelle für seine amerikanischen Kollegen. Die ständigen Veränderungen verdanken sich keinen Karrierezufällen. Sie finden beabsichtigt und gewollt statt: „Die Bedeutung von Fachwissen“, sagt Sonnet, „wird in deutschen Unternehmen oft überschätzt.“
Wie bitte? Haben wir nicht jahrzehntelang gelernt, dass Übung den Meister macht und das Hohelied der Spezialisierung gesungen? Dass Erfahrung und Expertise die entscheidenden Fähigkeiten sind, um seinen Job wirklich gut zu machen? Dass über belastbares Wissen nur verfügt, wer sich „in seinem Bereich“ gut auskennt?
Erfahrung ist nicht mehr der Schlüssel zu allem
Tatsächlich schwindet das Ansehen der Erfahrung. Sie wird, vor allem in jungen Unternehmen, nicht mehr als Schlüssel zur Lösung von Problemen hoch geachtet – sondern als Problem auf dem Weg zu einer Lösung milde geächtet. Weil unsere Wirtschaft mehr denn je von Veränderungen geprägt ist. Weil die Digitalisierung so schnell Anforderungsprofile schafft, wie sie Qualifikationen nutzlos macht. Weil neue Geschäftsfelder alte Märkte bedrohen. Und weil morgen schon von gestern sein kann, was heute noch glänzende Geschäfte verspricht.
25 Thesen zur Arbeit der Zukunft
Die neue Arbeitswelt ist geprägt durch Netzwerke. Standardisierte Back-End Prozesse werden zwischen Unternehmen geteilt, ohne dass dies für Kunden oder Mitarbeiter sichtbar ist. Dadurch entstehen Arbeitsplätze ohne eindeutige organisatorische Zugehörigkeit und Produkte ohne eindeutigen Absender.
Quelle: „Arbeit 4.0: Megatrends digitaler Arbeit der Zukunft“ , eine Expertenbefragung der Telekom und der Uni St. Gallen aus dem Jahr 2015
Hoch spezialisierte Fachkräfte kommunizieren weltweit in Special Interest Communities. Nicht mehr die Organisationszugehörigkeit, sondern nur noch die fachliche Expertise leitet Loyalitäten. Die gelösten Bindungen führen auch zum Ende der Organisierbarkeit.
Unternehmen greifen für die Erbringung spezifischer Leistungen immer weniger auf die dem Unternehmen fest verbundene Workforce zurück. Globale Transparenz von Skills und Verfügbarkeiten hoch qualifizierter Fachkräfte führen zu einem „hiring on demand“. Das Arbeitsverhältnis wandelt sich zum Arbeitseinsatz.
Organisationen strukturieren sich nicht mehr entlang von Organigrammen. Komplexe IT-Systeme geben standardisierte Abläufe und Organisationsformen vor. Es ist billiger, die Organisation an die Software anzupassen als die Software zu individualisieren. Die Software-Standardisierung macht Organisationsformen homogener.
Akzelerierte Transparenzansprüche sowie die Notwendigkeit zu Co-Creation mit Kunden (Open Innovation) führen zu einer Öffnung und Entgrenzung vormals geschlossener Unternehmensstrukturen. Übergänge zwischen innen und außen werden flüssig, Herrschaftswissen, wie z.B. Patente, verlieren an Wert. Die Fähigkeit, schnell und offen zu skalieren, wird zum Königsweg. Dabei wird die Crowd zum Teil der Wertschöpfung.
Statt auf Mitarbeiter setzen Unternehmen immer mehr auf Kunden. Viele (digitalisierbare) Leistungen werden von Begeisterten freiwillig und unentgeltlich erbracht. Beim Prosumerismus verschwimmen die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten. Freiwillige digitale Arbeit ersetzt dabei professionelle Beschäftigung.
Die Rolle des Menschen im Produktionsprozess transformiert sich vom Erbringer der Arbeitsleistung in den Überwacher der Maschinen. Routinevorgänge und auch körperlich belastende Tätigkeiten werden von diesen selbstständig abgewickelt. Der Mensch kontrolliert und greift nur im Notfall ein.
Neue Interaktionsformen zwischen Mensch und Maschine ziehen herauf. Diverse Spielarten werden in Zukunft koexistieren. Von Menschen, die Maschinen steuern, über Maschinen als Kollegen der Menschen bis zur Verschmelzung von Maschine und Mensch oder der kompletten Übernahme der Maschinen.
Digitale Leistungen werden in immer kleinere Teile zerlegt und an „Virtual Laborers“ delegiert. Durch Big Data Analysen können Wertbeiträge präzise einzelnen Arbeitskräften zugeordnet werden. Cloud- /Clickworker erbringen ihre Leistungen im Akkord. Absehbar werden viele dieser Tätigkeiten bald voll digitalisiert.
Mit Big Data liegen für alle Lebensbereiche hinreichend Daten vor. Die Fähigkeit, diese sinnhaft zu kombinieren und zu interpretieren, ist eine Schlüsselqualifikation digitaler Arbeit und nicht substituierbar. Von traditioneller Datenanalyse unterscheidet sich die Arbeit mit Big Data allerdings, da keine Hypothesen mehr benötigt werden („end of theory“).
Hochqualifizierte Spezialisten erbringen im Rahmen von Projektarbeit Arbeitsleistung rund um die Welt. Qualifikationen sind global transparent und vergleichbar. Die räumliche Verortung des Leistungserbringers spielt keine Rolle mehr. Arbeit erlangt damit erstmals die gleiche Mobilität wie Kapital.
Die traditionellen Arbeitsorte und -zeiten lösen sich auf. Für Arbeitnehmer ergeben sich hieraus individuelle Gestaltungspotentiale, zum Beispiel zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf aber auch neue Belastungen („always on“).
Die Automatisierung von Arbeit ist endlich, da kreative Tätigkeiten verbleiben, die voraussehbar nicht maschinell substituierbar sind. Diese finden sich vor allem in sehr spezifischen Nischen. Unternehmerische Skills, Kreativität und die Beherrschung der Maschinen gelten als nur schwer substituierbare Fähigkeiten.
In Hochlohnländern werden Tätigkeiten mit unmittelbarer menschlicher Interaktion aufgewertet. Diese Jobs wachsen auch prozentual. Standardisierbare und anonyme Prozesse dagegen, gerade im Bereich ICT, werden zum Gegenstand von Offshoring und weiterem Effizienzdruck.
Durch die flexible und bedarfsgerechte Vergabe von Aufträgen an Arbeitskraft-Unternehmer lösen sich traditionelle Arbeitszusammenhänge und -abläufe auf. Die Arbeitszeit setzt sich zusammen aus MikroArbeitszeiten verschiedener Aufgaben, die der Arbeitnehmer nach Bedürfnis und Fähigkeit zusammenstellt.
Immer häufiger wird von den Erbringern kreativer oder geistiger Leistung verlangt, diese auch materiell umzusetzen. 3D-Drucker und andere Werkzeuge begünstigen diesen Trend.
Die weiter steigende Bedeutung von IT eröffnet den „Nerds“ den Weg in die obersten Unternehmensetagen. Was früher die musikalischen Wunderkinder waren sind heute die frühreifen App-Tüftler und Datenexperten. Zum disruptiven Wandel der Unternehmenskulturen wird diese Generation erheblich beitragen. Nicht formale Qualifikationen, sondern ausschließlich technisches Können entscheiden fortan über die Employability.
Distanzarbeit, die Anonymität von Crowd- und Clickworking-Arbeitsverhältnissen und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten integriert auch soziale Gruppen in den Arbeitsmarkt, die für das klassische Normalarbeitsverhältnis nicht zur Verfügung stehen. Dies gilt – wie zum Beispiel in Berlin beobachtbar – für Startups, aber auch für Clickworker in Schwellenländern.
Der Arbeitsort von Menschen in flexiblen Arbeitsverhältnissen breitet sich auf den öffentlichen Raum aus. Physische Büros sind temporäre Ankerpunkte für menschliche Interaktion, die vor allem dem Netzwerken dienen. Gearbeitet wird überall – nur nicht am eigenen Schreibtisch.
Gerade bei standardisierten Tätigkeiten sehnen sich Mitarbeiter nach Ablenkung und Belohnung. Gamification und intuitive Bedienbarkeit von IT-Oberflächen werden immer wichtiger und nähern die Arbeitsumgebung einem virtuellen Spielfeld an. Arbeitgeber sind gefordert, spielerische Designprinzipien in standardisierte IT-Anwendungen zu integrieren.
Die Bindung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber löst sich. Flexible Arbeits- und Kooperationsformen führen dazu, dass Arbeitnehmer ständig mit einem Bein im Arbeitsmarkt stehen. Systematische Personalentwicklung wird so erschwert. Gleichzeitig steigen Erwartungen und Ansprüche der Mitarbeiter an unmittelbar nutzbare Qualifizierungen.
Der Abschied von der räumlich verorteten Arbeit geht mit einem Wandel von der Präsenz-zur Ergebniskultur einher. Führungskräfte müssen lernen, dass sie mehr motivieren als kontrollieren werden. Die Kunst besteht darin, persönliche Bindung auch über unpersönliche technische Kanäle aufzubauen und zu erhalten.
Ein zunehmendes Innovationstempo erzwingt die ständige Neubesetzung zukunftsträchtiger Geschäftsfelder und die Transformation der bestehenden Geschäftsmodelle. Gleichzeitig muss das in der Gegenwart noch profitable Kerngeschäft so effizient wie möglich verfolgt werden. Management wird so „beidhändig“ und agiert in Gegenwart wie Zukunft gleichermaßen.
Digitale Arbeitskräfte sind in Form individueller Datenpakete quantifiziert – ihre Kompetenzen ihre Kompetenzen, Erfahrungen, Kapazitäten. Das erleichtert die passgenaue Vergabe von Aufträgen. Störfaktoren im Datenprofil können so ein Matching aber auch verhindern. Personalauswahl wird weniger intuitiv, aber auch weniger an kultureller Passung orientiert.
Sensoren prägen das „Büro der digitalen Arbeit “. Eigenschaften der Umgebung, der Prozesse, der Arbeitsergebnisse und der Arbeitenden werden laufend aufgezeichnet, um sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer Informationen über Qualität und Verbesserungspotenziale der Arbeit zu liefern. Praktischer Nutzen muss gegen ethische Erwägungen abgewogen werden.
Der Veränderungsdruck stellt den Wert von Erfahrung infrage, das zeigt eine Reihe von Studien: Mehr Wissen führt nicht zwangsläufig zu besseren Ergebnissen – im Gegenteil. Wer lange in einem Gebiet tätig ist, riskiert einen Tunnelblick und neigt zur Selbstüberschätzung. Andreas Pfnür, Professor für Baubetriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität Darmstadt, hat das zum Beispiel in der Baubranche festgestellt: Im Jahr 2015 verschickte er Fragebögen an 230 Projektleiter und ließ sie ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen.
Das Ergebnis: Nicht nur fehlende, sondern auch zu viel Expertise führte zu Fehlern – vor allem deshalb, weil die vermeintlichen Insider „die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung“ und das damit verbundene Risiko unterschätzten.
Institutionalisierte Neugier in Tech-Firmen - und bei der Deutschen Bahn
Das hat sich auch bei Unternehmen herumgesprochen. Deshalb versuchen inzwischen zahlreiche Arbeitgeber, die Risiken und Nebenwirkungen der Routine zu lindern. Manche haben die Lust ihrer Mitarbeiter auf neue Themen gewissermaßen institutionalisiert. Bei der kanadischen IT-Firma Hootsuite müssen am Ende jedes Jahres 20 Prozent der Mitarbeiter einen anderen Arbeitsplatz im Unternehmen haben. IBM lässt seine Angestellten ebenso rotieren wie der Schweizer Technologiekonzern Bühler.
Und bei der Deutschen Bahn gilt seit Anfang des Jahres eine Sieben-Jahres-Regel – länger soll niemand mehr auf seinem Posten sitzen. Die oberen und mittleren Führungsebenen, unterhalb des Vorstands, wechseln nun ständig ihre Aufgaben. Riskant? Vielleicht. Doch die Chancen überwiegen die Gefahren, heißt es. „Wer immer nur die gleichen Aufgaben macht, reflektiert sich nicht mehr“, sagt Lars Thiele, Experte für Entwicklung von Führungskräften bei der Personalberatung Kienbaum.