Komplexe können, wie angedeutet, neurologische Gründe haben, aber auch durch eine prägende Erfahrung hervorgerufen sein. So wie bei Sahra Wagenknecht. Vor ihrem Büro im Berliner Jakob-Kaiser-Haus regnet, blitzt und donnert es an diesem Tag. Doch die Fraktionschefin der Linken sitzt ungerührt auf dem Sofa, die Beine übereinander geschlagen, die Hände in den Schoß gelegt. „Ich war eine Außenseiterin, fühlte mich ausgegrenzt und zurückgesetzt“, sagt die Politikerin der Partei Die Linke, wenn man sie auf ihre Kindheit in einem Dorf bei Jena anspricht. Warum? Nun, Wagenknechts Vater stammt aus Persien – und die anderen Kinder hänselten Sahra aufgrund ihrer tiefbronzenen Hautfarbe.
Wagenknecht weigerte sich, in den Kindergarten zu gehen, und war oft einsam. Wie zum Trotz entwickelte sie stattdessen „sehr früh ein Selbstbewusstsein für Dinge, die ich besser konnte als andere“, sagt Wagenknecht. Psychologen bezeichnen diese Eigenschaft als Selbstwirksamkeit. Damit gemeint ist die innere Überzeugung, alles erreichen zu können, was man erreichen will.
Wagenknecht erkannte, dass sie vielleicht nicht im sozialen Miteinander, aber dafür im Denken fitter war als viele andere Kinder. Bereits im Alter von vier Jahren begann sie zu lesen. Und konnte schon wenig später die ersten Wörter schreiben – und rechnen.
Die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner hat ihre wissenschaftliche Karriere der Frage gewidmet, warum manche Kinder mit Rückschlägen und Kränkungen besser umgehen können als andere. 1955 begann sie eine Langzeitstudie auf der hawaiianischen Insel Kauai. Mehr als vier Jahrzehnte lang beobachtete Werner die Entwicklung von knapp 700 Kindern, von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Darunter befanden sich rund 200 sogenannte Hoch-Risiko-Kinder, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwuchsen. Die Wissenschaftlerin fand heraus, dass sich trotz der schlechten Voraussetzungen rund ein Drittel der gefährdeten Kinder zu kompetenten, selbstbewussten und fürsorglichen Erwachsenen ohne psychische Probleme entwickelte.
Was die Mitglieder dieser Gruppe gemeinsam hatten? Sie sahen sich als Herr ihres Schicksals. Negative Ereignisse wurden von ihnen nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Herausforderung. Und manchmal sind die frühkindlichen Demütigungen sogar Antrieb dafür, später Gutes zu tun.
Ehemaliges Heimkind setzt sich für benachteiligte Kinder ein
Uwe Hück etwa, der mächtige Betriebsratsvorsitzende bei Porsche, wuchs im Kinderheim auf und besuchte die Sonderschule. Heute setzt er sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche ein. Christof Bosch, Enkel des legendären Unternehmensgründers Robert Bosch, hatte als Schüler Probleme beim Lernen. Heute engagiert sich die Bosch-Stiftung insbesondere für Bildung. „Bei den meisten Menschen, die anderen helfen, hat das autobiografische Gründe“, sagt auch Ali Mahlodji.
Er startete sein Start-up Whatchado ebenfalls, um zu helfen. Anderen, aber auch sich selbst: „Ich habe für den fünfjährigen Ali gegründet, der sich immer gefragt hat, welche Jobs es auf der Welt gibt – und welcher der richtige für ihn ist.“ Oder anders gesagt: Weil er das Gefühl hatte, dem kleinen Ali eine Antwort schuldig zu sein, hat der große Ali sich mit einem Start-up selbstständig gemacht, hinter dem eine Art Datenbank für Berufe steckt. In kurzen Videos erzählen die Menschen dort, wie sie zu ihrer Profession gefunden haben, was sie an ihrem Job besonders mögen und welche Ratschläge sie ihrem jüngeren Ich gegeben hätten. Auch Ali Mahlodji kommt dort in einem Video zu Wort und erläutert seine Mission.
Er will allen Unentschlossenen weltweit dabei helfen, ihre Berufung zu finden – um mit jenen sprichwörtlichen Karten bestmöglich umzugehen, die einem das Leben ausgehändigt hat.