Sind Sie ein langfristig orientierter Investor? Wenn ja, dann sollten bei Ihnen die Alarmglocken klingeln, wenn Ihnen Aktien empfohlen werden, die ein „attraktives Rendite-Risiko“-Profil haben. Was man Ihnen damit sagen will: Sie sollten nicht allein auf die Rendite schauen. Ebenso wichtig sei es, dass das Risiko, das Sie eingehen, nicht zu hoch beziehungsweise „angemessen“ ausfällt. Das klingt auf den ersten Blick vernünftig.
Doch auf den zweiten Blick entpuppt sich diese Empfehlung als äußerst problematisch. Der Grund: Die moderne Finanzmarkttheorie und die auf ihr aufbauende Finanzindustrie versteht unter Risiko das Schwanken der Aktienkurse: Wenn das Auf und Ab der Kurse von Aktie A geringer ist als das von Aktie B, dann wird Aktie A als risikoärmer eingestuft als Aktie B. Warum aber sollte man Kursschwankungen mit Risiko gleichsetzen?
Die moderne Finanzmarkttheorie behauptet, dass die Kurse an der Börse stets den „wahren Wert“ der Aktien widerspiegeln. Doch diese Idee ist – aufgrund rein logischer Überlegungen – nicht haltbar. Ich will es an dieser Stelle nicht unnötig kompliziert machen und hebe daher nur nachdrücklich hervor: Kursschwankungen an der Börsen sind nicht gleichzusetzen mit dem Risiko, das der langfristige Investor eingeht.
Wenn Sie Geld für fünf, zehn oder mehr Jahre anlegen, besteht Ihr Risiko nicht darin, dass der Kurs Ihrer Aktie in den kommenden Monaten und Quartalen mal steigt und mal fällt. Das Risiko kommt vielmehr darin zum Ausdruck, dass Sie einen dauerhaften Kapitalverlust erleiden könnten; dass also die Gewinn- und Renditeentwicklung des Unternehmens, dessen Aktien sie gekauft haben, hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Genauer: Ihr „wahres“ Risiko ist, dass der Wert der Aktie – also die Summe aller abdiskontierten Zahlungen, die ein Unternehmen künftig erzielt – geringer ausfällt, als Sie es im Investitionszeitpunkt erwartet haben. Die Konsequenz daraus lautet: Investieren Sie nur in die Aktien, deren künftige Gewinn- und Renditepotenziale Sie auch hinreichend genau abschätzen können. Mit diesem Grundprinzip verringern sie Ihr Investitionsrisiko!
Der „Streit“ um das wahre Risiko ist keine verbale Spitzfindigkeit, ist keine akademische Fingerübung. Er hat vielmehr unmittelbare Praxisrelevanz: Wer langfristig anlegt, der sollte sich klarmachen, dass Anlageentscheidungen, die sich an den Kursschwankungen der Aktien – dem populären Risikomaß der Finanzindustrie – orientieren, höchst verlustreich werden können. Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen.
Schauen wir auf die nachstehende Graphik. Aktie A hat eine moderate positive Rendite, und die Kurse der Aktie weisen ebenso moderate Schwankungen auf. Im Vergleich dazu hat Aktie B eine deutlich höhere Rendite. Der Kurs der Aktie B schwankt allerdings auch deutlich stärker als der von Aktie A. Frage: In welche Aktie würden Sie als Langfristinvestor lieber investieren? Vermutlich doch wohl in Aktie B! (Das zumindest ist meine Wahl.)
Die Finanzindustrie konfrontiert Sie jedoch mit dem Risikomaß „Volatilität“, eine statistische Größe, die auch als Standardabweichung bekannt ist. Nehmen wir an, Aktie A erzielt eine Rendite von fünf Prozent pro Jahr. Die Standardabweichung der Rendite beträgt ebenfalls fünf Prozent. Das bedeutet, dass man damit rechnen muss, dass die Kurse von Aktie A (mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) zwischen zehn Prozent und null Prozent schwanken.