Kommentierung zum EU-Recht Juristen rechtfertigen Politik ohne Grenzen

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Nachträglicher Juristen-Segen für eigenmächtige Kompetenzerweiterung

Umgekehrt ist es verständlich, wenn mancher Jurist von der Lektüre der ‚Lissabonner‘ Vertragstexte absieht. Denn allzu oft erliegen die Gesetzesregeln hier der Versuchung, sich den politischen Tageslaunen nur gar zu flexibel anzudienen. Das spiegelt dann auch die Frankfurter Kommentierung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union deutlich wider.

Artikel 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betrifft beispielsweise die Frage, ob sich die Union selbst ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten neue, eigene Kompetenzen zuschreiben kann. In letzter Konsequenz ähnelt dies der Frage, ob ein Bevollmächtigter den Umfang seiner Vollmacht ohne Mitwirkung des Vollmachtgebers ausdehnen kann. Was im normalen Leben unmöglich ist, gestattet sich die Europäische Union.

Der Aachener Rechtslehrer Walter Frenz erläutert dazu, der Artikel ertüchtige zwar nicht zu grenzenlosen Selbstermächtigungen, doch die als „Flexibilitätsklausel“ auszulegende Regel erlaube der Union, „auf Feldern tätig zu werden, die bislang gar nicht als Aktionsfelder für die Union erkannt wurden“. Bei Auftreten neuer Phänomene könne daher das „Unionsrecht flexibel fortentwickelt werden, auch wenn bislang keine Kompetenzgrundlage vorhanden ist“.

Auf mehr als 6500 Seiten erläutern und kommentieren knapp 60 Wissenschaftler und Juristen den Vertrag über die Europäische Union, die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nach den Reformen im Vertrag von Lissabon.

Die vertraute rechtsstaatliche Regel, dass staatliche Stellen nur genau das tun dürfen, was ihnen zuvor durch Gesetz ausdrücklich gestattet wurde, ist mit solchen eigenwilligen Flexibilitätsregeln natürlich ausgehebelt. Auch die von der mitkommentierenden Rechtsreferendarin Stephanie Dausinger besorgte Interpretation, dass die europäische Finanzkrise unkontrollierbaren „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen“ gleichstehe und deswegen notstandsartige Rettungsschirme legitimiere, erscheint methodisch in mehrfacher Hinsicht mutig, auf jeden Fall aber fragwürdig. Kann man die verfassungsrechtlich verbotene Gesamtschuldnerschaft von Staaten durch Sekundärrecht „überwinden“, wie sie schreibt? Zweifel sind angebracht.

Vielleicht liegt die Chance für eine Zukunft der Union weniger in derart defensiven Zugeständnissen an eine undeutliche Politik als vielmehr im offensiven juristischen Einfordern handwerklich sauberer Gesetzesbegriffe. Dazu sind mächtige Standardkommentare, wie es der Frankfurter Kommentar werden will, grundsätzlich gut geeignet. Dazu müssen sie aber auch den Fokus auf die neuralgischen Punkte im Rechtssystem lenken.

Die bestens geordneten Bände aus dem Hause Mohr/Siebeck mit ihrem benutzerfreundlichen Sachverzeichnis erleichtern den Zugang zu der ambitionierten Materie erheblich. Die knapp 800 Euro, die Juristen für die vier Bände berappen müssen, sind durchaus gerechtfertigt.

Zu schade wäre es jedenfalls, wenn sich für die Europäische Union und ihre juristischen Architekten allerorten einmal mehr die Worte des legendären Soziologen Cyril Northcote Parkinsons aus dem Ursprungsjahr der Römischen Verträge bewahrheiten würden: „Es ist heute bekannt, dass eine Perfektion der Planung nur von jenen Institutionen erreicht wird, die sich am Rande des Ruins befinden. Es gibt Beispiele im Überfluss von neuen Gebilden, die das Licht der Welt erblicken, voll ausgestattet mit stellvertretenden Direktoren, Beratern und Geschäftsführern, alle versammelt in einem Gebäude, das speziell für diesen Zweck geplant und errichtet wurde. Die Erfahrung lehrt uns, dass eine solche Gesellschaft stirbt. Sie wird von ihrer eigenen Vollkommenheit erstickt.“

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