Gastkommentar von Kevin Rudd Schlechte Erfahrungen prägen

Der ehemalige Premierminister von Australien schildert, wie China seine Begegnungen mit dem Westen in der Neuzeit wertet: Es sind vor allem drei historische Entwicklungen, die das Bild vom Westen bis heute prägen.

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Der Autor war Premierminister Australiens.

Die weltweiten Kräfteverhältnisse verschieben sich derzeit wie tektonische Platten. Alte Großmächte verlieren an Gewicht, neue Machtzentren treten hinzu, und die Vormacht des Westens bröckelt angesichts der unaufhaltsam aufstrebenden Staaten in Asien. Allen voran fordert China das tradierte Kräftegefüge heraus und drängt an die Spitze. Für die gesamte westliche Welt ist deshalb kaum ein strategischer Aspekt von größerer Bedeutung als die langfristige Positionierung Chinas und sein Gestaltungs- oder gar Führungsanspruch in der Weltpolitik.

Um zu verstehen, was China antreibt und warum das Land dem Westen mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenübertritt, müssen wir den Blick in die Vergangenheit richten, aber auch verstehen lernen, dass mit dem Aufstieg Chinas andere Werteorientierungen an Einfluss auf die Zukunft des internationalen Systems gewinnen.

Es sind vor allem drei historische Entwicklungen, die Chinas Bild vom Westen bis heute prägen: die Zerschlagung des chinesischen Kaiserreiches durch den europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert, die Ignoranz der westlichen Siegermächte gegenüber China im Rahmen der Friedensverhandlungen nach den beiden Weltkriegen – und schließlich die Arroganz, mit der der Westen seit dem Beginn des chinesischen Aufstiegs wie selbstverständlich einfordert, das Land müsse sich im Sinne der westlichen Welt- und Werteordnung in das geltende System einfügen.

Die Gründe für die Distanz des modernen China zum Westen wurden mit dem Ausgreifen der europäischen Mächte nach Asien vor bald 150 Jahren gelegt. Binnen kurzer Zeit ging mit dem kaiserlichen China und seiner Qing-Dynastie ein Staat mit einer 2100 Jahre alten Kultur und Regierungsform unter. Dieser Prozess begann mit den Opiumkriegen von 1839 bis 1842 und endete mit der Niederschlagung des Boxeraufstandes 1901. Chinas letzte Dynastie zerbrach nur ein Jahrzehnt später während der Xinhai-Revolution von 1911. Das imperiale Verhalten der Europäer im Verlauf des 19. Jahrhunderts wirkt sich bis heute auf Chinas Nationalbewusstsein aus.

Vereinfacht gesagt, entstand dadurch ein tiefes Gefühl des Misstrauens gegenüber dem imperialen Westen. Es ist nicht zuletzt diese historische Erfahrung, die wiederum das chinesische „Sendungsbewusstsein“ auf dem Weg des Landes zu neuer Größe – und vielleicht bereits in naher Zukunft an die Weltspitze – erklärt.

Der Westen beging seinen zweiten Fehler schon 1919 bei den Versailler Verhandlungen zur globalen Nachkriegsordnung. Die Siegermächte hätten allen Grund gehabt, China in den Friedensverhandlungen nicht außer Acht zu lassen. Was kaum noch jemand in Europa weiß: China hatte sich auf Drängen der „Triple Entente“ aus Großbritannien, Frankreich und Russland dazu überreden lassen, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten. Die chinesische Republik müsse sich als verantwortungsbewusstes Mitglied der internationalen Gemeinschaft verhalten und die Sache der Alliierten unterstützen, lautete schon damals die wohlfeile Forderung.

Tatsächlich entsandte China ab 1916 mehrere Hunderttausend Arbeiter in Kriegsgebiete, um Gräben auszuheben und andere gefährliche Arbeiten für die Sache der Alliierten auszuführen. Viele von ihnen wurden dabei getötet, viele weitere durch Krankheit. Doch der Lohn für das Engagement blieb China verwehrt. Eine chinesische Delegation wurde in Versailles gar nicht erst zu den Verhandlungen zugelassen. Vor allem aber wurde entschieden, die ehemaligen deutschen Kolonien in China dem Land nicht zurückzugeben. Sie gingen stattdessen ausgerechnet an den asiatischen Rivalen Japan.

Die Legitimität der jungen chinesischen Republik wurde durch den Versailler Vertrag effektiv zerstört. Es kam zu massiven Studentenunruhen in Peking – und zwei Jahre danach schließlich zur Gründung der Kommunistischen Partei Chinas, die das Land später auf einen ganz anderen Kurs steuern sollte.


China fühlt sich nicht ernst genommen

Damit nicht genug, legitimierte Versailles so implizit auch die Ambitionen Japans, die künftige Hegemonialmacht Asiens zu werden und dabei den europäischen Imperialisten nachzueifern. Die späteren Großinvasionen Japans – das in den 1930er Jahren China besetzte – waren die konsequente Auswirkung. Japan hatte von den Europäern nur allzu schnell gelernt, dass der Imperialismus nichts „Falsches“ sei, sondern der natürliche Gang der Dinge. Die Japaner lernten auch, dass ein imperiales Reich offenbar Voraussetzung war, um Weltmachtstatus zu erlangen.

Der Erfolg der japanischen Invasion in China war auch entscheidend für die Delegitimierung der zweiten chinesischen Republik unter Chiang Kai-shek. Der japanische Erfolg entzog dessen Kuomintang-Regierung in den 1930er-Jahren den Rückhalt in der Bevölkerung. Den Bürgerkrieg, der nach der Kapitulation Japans ausbrach, verlor sie trotz militärischer Überlegenheit gegen die Kommunisten.

Am Aufbau der Weltordnung nach 1945 wurden die Chinesen einmal mehr nicht beteiligt. In China hallt dieses historische Echo bis heute nach, nicht nur im anhaltenden politischen Erfolg der herrschenden Kommunistischen Partei, sondern auch im aktuellen Stand der japanisch-chinesischen Beziehungen.

Angesichts dieser leidvollen Geschichte muss man sich in Europa nicht wundern, wenn sich Peking mit Blick auf die seit 1945 errichtete Nachkriegsordnung die Frage stellt, warum dieses – wiederum rein westlich geprägte – Staatensystem von Natur aus legitim sein sollte.

Die Chinesen erkennen zwar durchaus, dass die aktuelle Ordnung mit ihren offenen Volkswirtschaften Vorteile hat, die sie auch zu nutzen wissen. Aber sie verstehen sich eben nicht als verantwortlicher Mitgestalter, sondern fühlen sich bis heute nicht ernst genug genommen. Und dies, obwohl das erstarkte China inzwischen die (kaufkraftbereinigt) größte Volkswirtschaft der Welt ist und über die zweitgrößte Militärmaschinerie der Welt verfügt.

Wenn gerade die USA oft und gern betonen, dass China seine Rolle als globaler Stakeholder auszufüllen habe, stößt diese Forderung den Chinesen nicht von ungefähr häufig bitter auf. Nach ihrer Auffassung wurden sie für ihre Teilnahme am Ersten Weltkrieg, durch die sie das westliche Konzept aktiv unterstützten, nicht nur nicht belohnt – sie wurden sogar dafür bestraft und durften eine ähnliche Erfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal machen.

Der Westen wäre gut beraten, die Zukunft der globalen Ordnung auch aus chinesischer Perspektive zu betrachten, statt sie notorisch zu missachten. Wir mögen uns mit den daraus resultierenden politischen Schlussfolgerungen schwertun, aber es ist sinnvoll und zeugt von Respekt, die Vorgeschichte des Aufstiegs Chinas zur neuen Weltmacht verstehen zu wollen.

Einfach zu erwarten, dass China sich den Wertekanon und die gesellschaftliche Ordnung des Westens zu eigen macht, ist naiv. Und es genügt auch nicht, wie selbstverständlich davon auszugehen, dass das eigene, westliche System besser sei als jede Alternative.

In China ist man der Ansicht, die künftige Weltordnung müsse „fairer und gerechter“ gestaltet werden. Seine Außenminister und der chinesische Staatsrat für auswärtige Angelegenheiten formulieren inzwischen offen, dass sich China mit seiner aufstrebenden globalen Präsenz auch für eine Reform der Weltordnung engagieren müsse. Zwar bleiben die Chinesen ganz bewusst vage, an welche Veränderungen sie genau denken. Klar ist jedoch, dass ihr Bestreben auch von vielen Entwicklungsländern mitgetragen wird.

Vor diesem Hintergrund – und gerade auch angesichts der jüngsten Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wie auch der weltweiten Terrorgefahr – ist es dringend an der Zeit für neue Überlegungen zur Austarierung des internationalen Staatensystems unter aktiver Einbindung Chinas. Auch der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger hat diese Notwendigkeit in seinem neuen Buch „Weltordnung“ beschrieben und vor einer sich sonst abzeichnenden Legitimitäts- und Effektivitätskrise der Weltordnung gewarnt.

Die 1919 gefundene und 1945 weitgehend bestätigte Ordnung der Staatenwelt steht mehr denn je unter Rechtfertigungsdruck. Will der Westen nicht riskieren, seine Gestaltungsmacht sukzessive einzubüßen, muss er die Kraft zu Reformen aufbringen und aufstrebenden Staaten mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten einräumen.

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