Knauß kontert

Warum Deutschland Integrationskraft fehlt

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Deutschland als Enttäuschung

Wieso sollte sich also ein Türke, auch wenn er hier geboren ist, zu Deutschland bekennen, wenn die Deutschen selbst in Wort und Tat immer wieder demonstrieren, dass das nichts Erstrebenswertes, sondern etwas Vergehendes ist? Es ist wirklich kein Wunder, dass zugewanderte Türken mit Bedürfnis nach Stolz und Zugehörigkeit zwar gerne Teil der deutschen Volkswirtschaft und Nutznießer deutscher Sozialleistungen sind, aber ihr Herz lieber unter der Roten Flagge mit dem Mondstern wärmen. Schließlich leben die Deutschen selbst vor, dass Deutschland nichts als ein Wirtschaftsraum ist.

Die unsäglichen Beleidigungen des türkischen Präsidenten gegen Deutschland sind auch eine Folge des Versagens der deutschen Regierung. Schon im September 2015 offenbarte sie ihre Verantwortungsscheu vor aller Welt.
von Ferdinand Knauß

Und demonstriert Deutschlands Regierung nicht überdeutlich spätestens seit der so genannten Flüchtlingskrise, dass dieses Land sich selbst nichts zutraut? Kein entschiedenes Handeln zumindest, sondern nur das hilflose Management von Unterstützungszahlungen. Welchen Eindruck muss es auf in Deutschland lebende Türken machen, wenn die deutsche Regierung die wohl wichtigste Funktion staatlicher Souveränität, nämlich die Kontrolle über die Grenzen, an ihr Herkunftsland delegiert, weil dieses kann, was Deutschland angeblich nicht kann? 

Es ist wohl kein Wunder, dass ausgerechnet Deutsche mit Einwanderungsgeschichte zu den größten Kritikern der laschen Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Erdoğan-Regime gehören. Leute wie Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der „Kurdischen Gemeinde in Deutschland“ und Präsident der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland“. „Dieses Appeasement [gegenüber Erdoğan und seiner hier installierten Gegengesellschaft] macht mich fassungslos“, schreibt Toprak. Einwanderer wie Bassam Tibi, in Damaskus geborener Begründer der Islamologie und unermüdlicher Augenöffner angesichts der Gefahren des Islamismus. Oder die Soziologin Necla Kelek, die seit Jahren gegen die Unterdrückung von Mädchen und Frauen in muslimischen Familien aufbegehrt. Es gibt glücklicherweise Hunderttausende solcher neuer Bürger.

Diese Menschen haben sich bewusst, vermutlich nicht ohne innere Konflikte und gegen wachsende Bedrohungen durch frühere Landsleute, für Deutschland, den Westen und seine Kultur entschieden. Diese Menschen haben sich nicht nur in einen Arbeitsmarkt integriert. Für sie ist Deutschland keine Versorgungsmaschinerie, sondern ein Gemeinwesen freier Bürger. Diese Menschen sind stolz auf ihre Integration in dieses Land. 

Wenn Journalist Deniz Yücel freikommen soll, muss Berlin der Türkei etwas anbieten, glaubt Politikwissenschaftler Roy Karadag. Der Preis könnte etwas mit dem umstrittenen Verfassungsreferendum zu tun haben.
von Marc Etzold

Doch nun erleben sie ein enttäuschendes, schwächliches Deutschland, das wie der Journalist Robin Alexander in seinem fulminanten Buch über die Flüchtlingskrise aufgedeckt hat, von „Getriebenen“ regiert wird. Von einer Regierung, in der sich niemand traut, Verantwortung zu übernehmen – aus Angst vor hässlichen Bildern. Ein Land, das seine westliche und freiheitliche Identität allenfalls halbherzig verteidigt. Ein Land, auf das man nicht stolz sein kann.

Wenn Deutschland ein Einwanderungsland sein will, dann muss es sich auch wie eines verhalten. Dann muss es ein starkes Land mit starkem Bürgersinn und starkem Staat sein. Ein Land, das Schutz bietet (auch vor den Schergen des Herkunftslands), aber auch ein unmissverständliches Bekenntnis zu Pflichten und Verantwortung von Neubürgern einfordert. Bedingung dafür: Wissen, was man ist, und bereit sein, das zu bewahren - für die eigenen Bürger und ihre Nachkommen.

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