Nach dem Türkei-Referendum Wie die Europäer Erdoğan sanktionieren können

Bis 2020 überweisen die Europäer Milliarden nach Ankara – auch zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten. Und die Türken wollen mehr zollfreien Handel mit Europa. Gekappte Geldströme könnten Recep Tayyip Erdoğan zur Räson bringen.

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Nach dem Referendum geht das Leben auf den Straßen der Türkei (im Bild: Istanbul) weiter. Doch im In- wie Ausland wachsen die Sorgen. Quelle: dpa

Die Europäer wirken ratlos. Nach dem Referendum in der Türkei forderte die EU-Kommission die türkischen Behörden auf, Vorwürfe über Wahlmanipulationen zu entkräften. Erforderlich seien „transparente Untersuchungen“ hieß es aus Brüssel.

Auch von der deutschen Bundesregierung kam ein erwartbarer Appell. „Der knappe Ausgang der Abstimmung zeigt, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist“, erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). Die Bundesregierung erwarte von der Regierung in Ankara, dass diese „nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht“.

Die Debatte dürfte sich schon bald verschärfen, sollte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seine Ankündigung wahrmachen, die Todesstrafe wieder einzuführen. Und je länger Welt-Journalist Deniz Yücel in türkischer Untersuchungshaft sitzt, desto lauter wird innerhalb Deutschlands die Frage, ob und wie die Bundesregierung die Türkei unter Druck setzen kann.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte kürzlich bereits vereinbarte wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen für die Türkei wegen der Verhaftung Yücels infrage gestellt. „Wir waren gut unterwegs, doch dann kam diese Verhaftung“, sagte Schäuble. „Das macht es jetzt wahnsinnig schwer.“ Kurz: Keine Wirtschaftshilfen ohne eine Freilassung Yücels. Und das ist nicht der einzige Hebel. Möglichkeiten, die Türkei unter Druck zu setzen:

Erstens – Geld: Im vergangenen Jahr stellte allein Deutschland 376 Millionen Euro Entwicklungsmittel für die Türkei bereit - überwiegend als Darlehen der staatlichen Förderbank KfW. Die EU hat der Türkei zwischen 2014 und 2020 insgesamt 4,5 Milliarden Euro Entwicklungshilfe versprochen, darunter 1,5 Milliarden für die Förderung von Demokratie und Menschenrechten. Hinzu kommen weitere sechs Milliarden Euro, um die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge zu versorgen, die in der Türkei leben. Deutschlands Anteil daran liegt bei einer knappen Milliarde Euro.

Merkel und Gabriel fordern "respektvollen Dialog" mit Opposition
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat sich besorgt darüber geäußert, dass hierzulande so viele Türken für die umstrittene Verfassungsreform gestimmt haben. „Wir - also die Parteien und Organisationen - müssen das Ergebnis genau analysieren und Wege finden, wie man diese Menschen besser erreicht, die in Deutschland in Freiheit leben, aber sich für die Menschen in der Türkei die Autokratie wünschen“, sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu der „Heilbronner Stimme“ und dem „Mannheimer Morgen“. Von den in Deutschland abgegeben Stimmen entfielen 63,1 Prozent auf das „Ja“. Damit gab es fast eine Zweidrittelmehrheit für das Präsidialsystem, das die Macht des Staatsoberhaupts künftig stark ausweitet. Quelle: dpa
Nach dem Verfassungsreferendum will die Bundesregierung so schnell wie möglich den Gesprächsfaden mit Ankara wieder aufnehmen. In einer ersten Reaktion erinnerten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel die türkische Regierung daran, dass sie als Mitglied des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und als EU-Beitrittskandidat Bedenken des Europarats gegen die neue Verfassung Rechnung tragen müsse. Gleichzeitig forderten sie Ankara dazu auf, der Spaltung der türkischen Gesellschaft entgegenzuwirken. „Der knappe Ausgang der Abstimmung zeigt, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist“, erklärten Merkel und Gabriel. „Die Bundesregierung erwartet, dass die türkische Regierung nun nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht.“ Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis „zur Kenntnis“, heißt es in der Erklärung. „Der abschließenden Einschätzung der OSZE-Wahlbeobachter soll nicht vorgegriffen werden. Die Bundesregierung misst dieser Bewertung besondere Bedeutung bei.“ Die Opposition in der Türkei hat angekündigt, das knappe Wahlergebnis anfechten zu wollen. Quelle: dpa
„Das Ergebnis zeigt, dass es in der Türkei ganz offenbar eine sehr lebendige politische Debatte, mit ganz unterschiedlichen Auffassungen gibt“, sagte Kanzleramtschef Peter Altmaier, CDU, im ARD-Brennpunkt. Quelle: dpa
In einer gemeinsamen Erklärung der EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini (r.), des EU-Kommissars für Nachbarschaftspolitik Johannes Hahn und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker (l.) hieß es: „Die Verfassungsänderungen und insbesondere ihre praktische Umsetzung sollten im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als EU-Beitrittskandidat und als Mitglied des Europarats begutachtet werden.“ Quelle: REUTERS
Der SPD-Chef und -Kanzlerkandidat Martin Schulz schrieb bei Twitter: „Der knappe Ausgang des Referendums zeigt: Erdogan ist nicht die Türkei. Einsatz für Demokratie und Menschenrechte muss weitergehen.“ Quelle: dpa
Sigmar Gabriel Quelle: AP

Natürlich könnten die Europäer hier kürzen, doch Ökonom Erdal Yalcin vom Münchner ifo Institut warnt: „Die Frage wäre doch, ob wir damit wirklich Erdoğan und nicht vielmehr der türkischen Bevölkerung und den Flüchtlingen schaden.“

Zweitens – Handel: Die Türken wünschen sich mehr zollfreien Handel mit den Europäern. Mitte Februar war der türkische Vizepremier Mehmet Simsek zu Besuch in Berlin, um eine Vertiefung der Zollunion auszuloten. Türkeiexperte Yalcin hat ausgerechnet, dass das türkische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zehn Jahren um über 1,8 Prozent zusätzlich wachsen könnte, wenn der freie Handel nicht nur für die Industrie gelte, sondern auch für Agrar- und Dienstleistungen. Im besten Fall stiegen türkische Exporte in die EU um 70 Prozent.

Doch die Bundesregierung mauert. „Die Zollunion leidet zunehmend unter Importbeschränkungen und Handelsbarrieren der Türkei“, teilte das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage mit. Die Verhandlungen gehen zwar trotz der aktuellen diplomatischen Streitigkeiten weiter. Die vertiefte Zollunion, die die EU absegnen müsste, könnte aber zum entscheidenden Hebel werden, um Erdoğan unter Druck zu setzen. „Schon die Drohung, die Zollunion nicht zu vertiefen, würde die türkische Lira auf Talfahrt schicken“, sagt Yalcin.

Drittens – Sanktionen:  Die europäischen Verträge stünden Sanktionen nicht im Wege – und dank der kontrollierbaren Grenze wären Ausfuhrbarrieren auch kein Problem. Sie wären sogar höchst wirksam: „Die Türkei würde Sanktionen kaum verkraften“, sagt Yalcin. Fast die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, rund ein Zehntel alleine nach Deutschland, was die Bundesrepublik zum wichtigsten Handelspartner für die Türkei macht.

Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Türkisches Parlament 2015. Quelle: dpa
Symbolbild aus Deutschland zur Wahl in der Türkei 2014 Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Justizminister Bekir Bozdağ Quelle: REUTERS
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