Türkei-Referendum Erdogans angekratzte Kampagne

Nicht nur seine Halsschmerzen bereiten Staatschef Erdogan Sorgen. Für sein Referendum hat er in den Umfragen keine klare Mehrheit. Viele Türken entdecken die negativen Seiten seines Regierungsstils. Ein Stimmungsbericht.

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Trotz der stetigen Präsenz der Ja-Kampagne („evet“) für das Verfassungsreferendum von Staatspräsident Erdogan gibt es viele Zweifel in der Bevölkerung. Quelle: dpa

Istanbul Neulich musste Recep Tayyip Erdogan zwei Wahlkampfauftritte absagen. Am vergangenen Wochenende konnte der türkische Präsident auf zwei Wahlkampfveranstaltungen nicht auftreten, weil er Halsschmerzen hatte.

Offenbar geht auch der gesamten Kampagne Erdogans, für ein „Ja“ beim anstehenden Verfassungsreferendum am 16. April zu werben, allmählich die Puste aus. Jüngste Umfragen zeigen nämlich, dass das „Nein“-Lager die Nase vorn haben könnte. Wahlbefragungen der türkischen Institute Sonar und Konsensus hätten ergeben, dass 51 Prozent die umstrittene Verfassungsänderung ablehnen könnten, teilten beide Institute am Mittwochabend mit. Zur selben Zeit erklärte hingegen das Genar-Institut, das Referendum werde voraussichtlich mit 54 Prozent angenommen.

In zehn Tagen stimmen Türken im In- und Ausland darüber ab, die türkische Verfassung grundlegend anzupassen. Im Land selbst wird eine Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Wahl beobachten. Aber auch in Europa sind drei Millionen Auslandstürken wahlberechtigt.

Der oberste Wahlbeobachter der OSZE, Michael Georg Link, kritisierte kürzlich die fehlende Überwachung der Stimmabgabe von Türken im Ausland beim Verfassungsreferendum. „Wir dürfen nur im Land selber beobachten, wir haben keine Teams in Deutschland, Österreich oder Schweden“, sagte Link. Das liege allerdings weniger an der Türkei als viel mehr an dem Mandat, das die OSZE bei solchen Missionen besitzt. „Das ist aber ein Thema, an das wir in der Zukunft als OSZE heran müssen“, erklärte Link.

Es handelt sich nach 2007 und 2010 um das dritte Gesetzespaket für die Verfassung, seit die AKP um Recep Tayyip Erdogan an der Macht ist. Volksabstimmungen finden in vielen Ländern regelmäßig statt, in der Schweiz regelmäßig auch über wichtige Gesetze wie Steuern oder Kinderbetreuung. Aber das Ändern des Systems, das einen Staat regiert, ist eine große Sache. Ein „Ja“ in der Türkei würde die hundert Jahre türkische Verbindung zur parlamentarischen Regierungsführung beenden.

Die anstehende Reform hat große Auswirkungen für die ethnisch gespaltene türkische Gesellschaft. Unter dem gegenwärtigen parlamentarischen System ist es der Premierminister, der die Regierung anführt, während das Parlament Gesetze verabschiedet. Sollten die Türken am 16. April mehrheitlich mit „Ja“ abstimmen, so kann der Präsident die Minister sowie zwei Drittel des hohen Rats für Richter und Staatsanwälte ernennen, das Parlament auflösen und einen Notstand erklären. Die Änderungsanträge für 18 Verfassungsparagrafen sehen außerdem vor, den Posten des Ministerpräsidenten abzuschaffen und die Macht auf den Staatspräsidenten zu konzentrieren. Befürworter erhoffen sich dadurch einen effizienteren Staat, während Gegner eine aufkeimende Diktatur fürchten.

Aber auch für die internationale Gemeinschaft hat die Wahl große Bedeutung. Die Türkei ist Mitglied der Nato-Allianz und liegt an der Grenze zu einem der weltweit größten Krisenherde, dem Nahen Osten. Ob die Türkei erfolgreich regiert wird, ist deswegen auch für internationale Spitzenpolitiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder US-Präsident Donald Trump von Bedeutung.

Die Frage, wie die Türkei in Zukunft regiert werden soll, spaltet die ohnehin polarisierte Gesellschaft. Demoskopen sehen seit Wochen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Alleine seit Anfang März haben türkische Wahlforscher in 17 Umfragen die Wählerlaune untersucht. Sieben davon sehen die Unterstützer des Referendums vorne, in zehn Umfragen lehnt eine Mehrheit der Befragten hingegen die Verfassungspläne ab.

Berücksichtigt werden allerdings nur die Wähler, die sich bereits festgelegt haben. In einer Umfrage des Onlinedienstes Qriously gab fast jeder dritte Befragte an, sich noch gar nicht entschieden zu haben. Das bedeutet zusätzliche Unsicherheit für Erdogan.


Keine Plakatwand ohne Erdogan

Der Grund, weshalb viele zögern, dürfte weniger in der politischen Sympathie für Erdogan oder seine Gegner liegen, als vielmehr eine ganz pragmatischen Frage sein: Nützt die türkische Führung ihren Bürgern noch oder nicht. Die Arbeitslosigkeit hat einen Höchststand seit der Finanzkrise erreicht. Durch Anschläge und außenpolitische Muskelspiele bleiben Millionen Touristen weg und bescheren Hoteliers leere Pools und leere Kassen.

Statt „Null Probleme mit den Nachbarn“, wie die AKP einst propagierte, steckt die Regierung aktuell in zahlreichen diplomatischen Schwierigkeiten. Beim inzwischen abgeschlossenen Militäreinsatz in Nordsyrien starben Dutzende Soldaten. Und seit einer überhasteten Säuberungswelle nach einem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 zweifeln viele Bürger an der Neutralität staatlicher Behörden.

Bei der Parlamentswahl im November 2015 zog Erdogans AKP noch zahlreiche Wechsel aus dem nationalistischen und dem ultra-religiösen Lager an sich und erreichte so die absolute Mehrheit. Bei der Direktwahl zum Präsidenten im August 2014 vertrauten ihm sogar noch mehr Leute. Beim anstehenden Verfassungsreferendum hat Erdogan sogar den Chef der rechtsextremen MHP ins Boot geholt; im November 2015 erreichten beide Parteien zusammengenommen 61,4 Prozent der Stimmen.

Doch die MHP ist gespalten bei der Frage, ob sie das neue politische System unterstützen soll. Prominente Parteimitglieder wie die Ex-Innenministerin Meral Aksener haben sich offen vom Parteichef und seinem Flirt mit Erdogan abgewendet und werben offen für ein „Nein“. Hinzu kommt, dass MHP-Chef Deniz Bahceli einen relativ schwachen Wahlkampf betreibt und vor allem dort auftritt, wo die AKP ohnehin mit einer starken Zustimmung rechnet. Ein Grund, weshalb Erdogan und Premierminister Binali Yildirim (AKP) kurz vor dem Referendum wieder die kurdische Bevölkerung für sich entdeckt – zum Ärger nationalistischer MHP-Wähler.

Und so investiert die AKP Millionen in ihre Wahlkampagne, um die Wähler zu mobilisieren. Kaum eine Plakatwand in der Metropole Istanbul ohne den Konterfei Erdogans oder Yildirims. Ganze Stadtviertel wie das Arbeiterviertel Kasimpasa, in dem Erdogan aufgewachsen ist, erscheinen wie ein Meer aus Parteiflaggen, die in Reihen über die schmalen Gassen gespannt werden. Mit gemäßigten Wahlsprüchen wie „Für unsere Zukunft“ oder „Von Herzen ‚Ja‘“ will die türkische Führung an jeder Ecke in die Köpfe der Menschen gelangen.

Zusätzlich tritt Erdogan seit mehreren beinahe täglich in türkischen Städten auf. Das kommt bei vielen gut an. Alleine seiner Geburtsstadt Rize am Schwarzen Meer stattete Erdogan in den vergangenen zwölf Monaten drei Besuche ab. Bei ihren Reden gehen Erdogan und seine Parteikollegen allerdings weniger zimperlich vor als auf Plakatwänden.

Erdogans Nazi-Vergleiche in Bezug auf Bundeskanzlerin Angela Merkel sind beim eigenen Volk gut angekommen. Gleichzeitig haben die Spannungen zwischen der Türkei einerseits und Deutschland und den Niederlanden andererseits Erdogan dabei geholfen, die Unterstützung vieler Auslandstürken als gesetzt zu markieren. In seinen Reden vor tausenden AKP-Anhängern appelliert Erdogan zusätzlich regelmäßig an das Nationalgefühl seiner Mitbürger und bezeichnet das Referendum als Entscheidung über das künftige Überleben der Türkei in der internationalen Gemeinschaft.

Doch selbst bei der eigenen Wählerschaft kommt das nicht immer an. In liberalen AKP-Kreisen wird zuletzt häufiger Kritik am Konfrontationskurs des türkischen Präsidenten laut, auch wenn sie nur indirekt geäußert wird. „Ich hoffe, dass sich die Rhetorik nach dem Referendum wieder beruhigen wird“, sagte der türkische Vize-Regierungschef Mehmet Simsek im März im Interview mit dem Handelsblatt. Vor allem junge gut gebildete AKP-Wähler sind skeptisch. Auch wenn belastbare Zahlen fehlen, dürften sie rund zwei bis vier Prozentpunkte bei der Wahl ausmachen.

Für Erdogan offenbar Ansporn genug, seine Halsschmerzen zu vergessen. Seit Anfang dieser Woche tritt er wieder täglich auf und gibt Interviews. Am Samstag ist eine Kundgebung vor Millionen Türken in Istanbul geplant.

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