Türkei und Nato Erdogan greift zu russischen Raketen

Die Türkei plant die Beschaffung moderner russischer Luftabwehrraketen vom Typ S-400. Es geht um mehr als ein Rüstungsgeschäft: Staatschef Erdogan sucht sich neue Partner außerhalb der Nato.

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Athen Neun Monate lang hat man verhandelt, jetzt scheint der Deal fast perfekt: „Wir stehen an einem guten Punkt und erwarten einen baldigen Abschluss“, erklärt Ibrahim Kalin, der Sprecher des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan. Es geht um die Beschaffung russischer Flugabwehrraketen des Typs S-400. Erdogan kann es kaum erwarten: „So Gott will, werden wir die S-400 bald in unserem Land sehen“, versprach er vergangene Woche den Abgeordneten seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP).

Rüstungsexperten in Ankara bestätigen: Die Verhandlungen sind auf der Zielgeraden. Danach will die Türkei 2018 zunächst zwei Batterien mit jeweils vier Lenkwaffen aus Russland beschaffen. Zwei weitere Batterien sollen später in der Türkei montiert werden. Das Geschäft hat ein Volumen von rund 2,5 Milliarden Dollar. Die Zahlungsmodalitäten seien noch offen, berichten Personen, die mit den Verhandlungen vertraut sind. Im Gespräch ist, dass Russland den Deal mit einem Kredit finanzieren könnte.

Die Aussicht, dass der Nato-Partner Türkei ein russisches Flugabwehrsystem kauft, löst in Washington großes Unbehagen aus. „Würden sie das wirklich tun, wäre es ein Grund zur Besorgnis“ sagte US-Generalstabschef Joseph Dunford kürzlich bei einer Sicherheitskonferenz in Aspen im US-Bundesstaat Colorado. Erdogan konterte: „Warum sollte es Besorgnisse geben?“ Jedes Land müsse für seine Sicherheit sorgen.

Lange habe man mit den USA über die Lieferung des Luftabwehrsystems Patriot verhandelt – ohne Ergebnis. „Deshalb planen wir jetzt den Einsatz der S-400, ob es ihnen nun gefällt oder nicht“, sagte der Staatschef vergangene Woche in Ankara. Türkische Informanten berichten, die Verhandlungen über eine Beschaffung von Patriot-Batterien seien daran gescheitert, dass die USA die von Ankara geforderte Kooperation bei der Fertigung der Systeme und den damit verbundenen Technologietransfer abgelehnt hätten.

Die Türkei sucht seit Jahren nach modernen Luftabwehrraketen. Weil die türkischen Streitkräfte kein eigenes System besitzen, mussten in den vergangenen Jahren Deutschland, die Niederlande, Spanien und die USA den Türken mit Patriot-Batterien aushelfen. So waren Bundeswehr-Patriots in der Südtürkei stationiert, um den Nato-Partner vor Angriffen aus Syrien zu schützen. Ende 2015 wurde der Einsatz beendet.

Bereits 2013 hatte die Regierung Erdogan bei einer Ausschreibung für ein eigenes Flugabwehrsystem dem staatlichen chinesischen Rüstungskonzern CPMIEC den Zuschlag gegeben. Die Chinesen konnten sich gegen Konkurrenz aus den USA und Europa durchsetzen. Die Nato war alarmiert: Die Integration eines chinesischen Raketensystems in die Verteidigungsstruktur des Allianzpartners Türkei stelle ein unüberschaubares Sicherheitsrisiko dar, kritisierten Nato-Militärs. Auf Druck der Bündnispartner stornierte Erdogan die Bestellung schließlich.

Die damaligen Besorgnisse gibt es nun angesichts der geplanten Bestellung russischer Raketen mindestens in gleichem, wenn nicht in noch höherem Maße.


Technologie-Transfer zwischen Russland und Türkei

Während sich die Beziehungen der Nato zu Russland auf dem tiefsten Punkt seit dem Ende des Kalten Krieges befinden, sucht Erdogan die Nähe des Kremlchefs Wladimir Putin. Von der Krise nach dem Abschuss eines russischen Bombers durch die türkische Luftwaffe im syrischen Grenzgebiet Ende 2015 haben sich die Beziehungen schnell wieder erholt. Mitte August 2016 besiegelten Putin und Erdogan bei einem Treffen in Sankt Petersburg die Aussöhnung. Schon damals kündigte Erdogan an: „Wir werden unsere Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie verstärken.“ Wenig später begannen die Verhandlungen über das S-400-Geschäft.

Erdogans Sprecher Kalin unterstreicht, es gehe bei dem Deal nicht nur um den Einkauf eines Rüstungssystems. Die S-400-Beschaffung sei vielmehr der Beginn eines langfristig angelegten Technologie-Transfers zwischen Russland und der Türkei.

Nachdem der russische Staatskonzern Rosatom bereits bei Akkuyu an der Mittelmeerküste das erste Atomkraftwerk der Türkei baut und betreiben wird, bekäme Russland nun mit der geplanten Montage der S-400 in Anatolien auch Zugang zur aufstrebenden Rüstungsindustrie des Nato-Staates. Kremlchef Putin könnte hoffen, mit dem Raketengeschäft einen Keil in die Nato zu treiben. Erdogan liebäugelt seit langem damit, sein Land den „Shanghai 5“ anzuschließen, der von Moskau und Peking dominierten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO).

Die Beziehungen der Türkei mit den europäischen Nato-Mitgliedern sind seit dem Putschversuch vom Juli 2016 so gespannt wie nie zuvor seit der türkischen Zypern-Invasion vor 43 Jahren. Neben der Kritik an Erdogans „Säuberungen“ sorgt aktuell auch das Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete auf dem Nato-Stützpunkt Konya für Irritationen.

Das Verhältnis zu Washington ist ebenfalls so strapaziert wie selten zuvor. Die USA verweigern die von Ankara geforderte Auslieferung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen. Überdies hält Washington im Syrienkonflikt an der Zusammenarbeit mit den Milizen der kurdischen YPG fest, die Ankara als Terrororganisation bekämpft. Vor dem Hintergrund der neuen US-Sanktionen gegen Moskau und der drohenden Ausweisung hunderter US-Diplomaten aus Russland bekommt Erdogans Raketengeschäft nun besondere politische Brisanz.

Bestanden bei den Überlegungen zum Kauf chinesischer Luftabwehrraketen in türkischen Militärkreisen noch Zweifel an der Zuverlässigkeit der Systeme, gibt es solche Sorgen bei der S-400 nicht. Sie gelten als eines der modernsten Flugabwehrsysteme weltweit. Die Raketen haben eine Reichweite von 400 Kilometern und können Ziele in bis zu 27 Kilometern Höhe vom Himmel holen. Bis zu 300 Objekte gleichzeitig kann eine S-400-Batterie anpeilen.

Nato-Experten hätten „großen Respekt“ vor diesem System, sagen Insider. Aber nicht nur die Leistungsfähigkeit der S-400 gibt zu denken. Anders als die von der Nato eingesetzten Patriot-Systeme hat die S-400 nicht die in der Allianz übliche Freund-Feind-Erkennung. Erdogan könnte das System daher theoretisch auch gegen Nato-Partner einsetzen – etwa gegen Flugzeuge des „Erbfeinds“ Griechenland über der Ägäis.

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