Es ist erstaunlich, wie selbstsicher desinformiert noch manche Journalisten, sogenannte Türkei-Experten und Politiker die Lage in der Türkei, nach allem was bisher dort geschehen ist, hierzulande einschätzen. In seriösen Medien war nach den jüngeren Terroranschlägen häufig zu lesen, dass nur die Ausweitung der Macht Erdogans wieder Stabilität in die chaotische Lage in der Türkei bringen könne.
Ja, klar! Eigentlich auch völlig logisch. Nachdem Erdogan höchstpersönlich die Türkei ins Chaos gestürzt hat, kann natürlich nur er wieder für Ruhe und Stabilität sorgen. Aber ganz bestimmt nicht, indem er seine Macht ausweitet und sich damit endgültig und offiziell zum Alleinherrscher der Türkei erklärt. Erdogan kann allenfalls für die Friedhofsruhe des Todes oder aber auch nur für die Ruhe vor dem Sturm sorgen. Das sind die einzigen Perspektiven, die die hoffnungsfroh herbeigeschriebene Machtausweitung Erdogans böte.
Die kürzlich auch in der WirtschaftsWoche bemühte These, sollte die von ihm angestrebte Verfassungsänderung unter Dach und Fach sein, werde das Land endlich zur Ruhe kommen und eine einst begonnene „Reform-Agenda fortsetzen, die das rasante Wachstum in den Nuller-Jahren ermöglichte und nebenbei Minderheitenrechte stärkte", ist nicht nur völlig irreführend und geht an den tatsächlichen Ursachen des kurzzeitigen Aufschwungs vorbei, sondern spricht auch jeglichen demokratischen Ansprüchen Hohn.
Zur Person
Ali Ertan Toprak ist Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschlands, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland und CDU-Mitglied.
Allein ein Blick auf die Asylzahlen in Deutschland gibt uns deutliche Anhaltspunkte, wohin der Weg der angeblich demokratischen Türkei führt. Die Zahl der Asylanträge türkischer Staatsbürger in Deutschland steigt ständig an. Das geht aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Parlamentarische Anfrage hervor. Demnach sind von Januar bis November 2016 genau 5166 Asylanträge türkischer Staatsbürger gestellt worden. Allein im November haben demnach 702 Türken Asyl in Deutschland beantragt. Im Januar waren es noch 119. Bemerkenswert auch: Fast 80 Prozent der Antragsteller sind Kurden.
Das alles darf angesichts der aktuellen Entwicklung in der Türkei nun niemanden ernsthaft verwundern. Wir müssen nicht einmal all jene traurigen Ereignisse der vergangenen achtzehn Monate Revue passieren lassen, um uns vor Augen zu führen, wes Geistes Kind Erdogan ist und wohin die Reise mit ihm geht.
Chronologie: Schwere Anschläge in der Türkei
Bei einem Doppelanschlag im Istanbuler Stadtteil Besiktas nahe einem Fußballstadion sterben am 10. Dezember mindestens 45 Menschen, überwiegend Polizisten. Zu den Anschlägen bekennt sich die TAK, eine Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Eine Woche später kommen in der zentraltürkischen Stadt Kayseri bei einem Selbstmordanschlag mindestens 13 Soldaten ums Leben. Der Attentäter hat eine Autobombe neben einem Bus mit Militärangehörigen gezündet haben. Auch hierzu bekennt sich die TAK. Am 19. Dezember wird der russische Botschafter Andrej Karlow in Ankara von einem türkischen Polizisten niedergeschossen. Die türkische Regierung verdächtigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Attentat zu stecken.
Bei einem Autobombenanschlag in der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir werden mindestens elf Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten. Erstmals übernimmt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Verantwortung. Auch die TAK bekennt sich zu der Tat. Zu der Explosion war es kurz nach den Festnahmen von zwölf Abgeordneten der pro-kurdischen HDP gekommen.
In der südosttürkischen Provinz Hakkari bringt ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster vor einem Kontrollposten der Gendarmerie zur Explosion. Bei dem Selbstmordanschlag der PKK kommen 16 Menschen ums Leben.
Ein Attentäter sprengt sich inmitten einer kurdischen Hochzeitsfeier in der südtürkischen Stadt Gaziantep in die Luft. Es gibt mehr als 50 Tote.
Am internationalen Terminal des Atatürk-Flughafens in Istanbul sprengen sich drei Selbstmordattentäter in die Luft. Sie reißen 45 Menschen mit in den Tod. Die türkische Regierung macht den IS dafür verantwortlich.
Bei einem Autobombenanschlag in der Hauptstadt Ankara werden mindestens 37 Menschen getötet. Zu dem Anschlag bekennt sich die TAK.
Bei einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi im Regierungsviertel von Ankara sterben 30 Menschen, darunter der Selbstmordattentäter. Zu dem Attentat bekennt sich die TAK.
Bei einem Anschlag im historischen Zentrum Istanbuls werden zwölf Deutsche getötet. Der Angreifer sprengt sich mitten in einer deutschen Reisegruppe in die Luft. Er gehörte nach Angaben der türkische Regierung dem IS an.
Am Rande einer regierungskritischen Demonstration in der Hauptstadt Ankara reißen zwei Sprengsätze mehr als 100 Menschen in den Tod. Die Staatsanwaltschaft macht den IS dafür verantwortlich.
Während wir in den letzten Tagen vor Weihnachten um die Opfer von Berlin trauerten und uns für die Weihnachtstage eine friedvolle Zeit wünschten, hat es in der Türkei wieder zahlreiche Razzien gegen missliebige Personen und Festnahmen von Journalisten gegeben. Und nun auch noch der Anschlag in der Silvesternacht in einem beliebten Istanbuler Nachtclub.
Mit den Inhaftierungen über die Weihnachtstage bewegt sich allein die Anzahl der eingesperrten Journalisten auf die 200 zu. Nach Ansicht der Erdogan-nahen Medien – das sind mittlerweile nahezu 98 Prozent der gleichgeschalteten türkischen Medien, die sich nur noch in Regierungspropaganda bewegen – handele es sich bei den Inhaftierten nicht um Journalisten, sondern um "Propagandisten". Das erinnert erschreckend an jenes Bonmot, wonach der künftig wiederkehrende Faschist von jedem außer sich selbst behaupten werde, Faschist zu sein. Dabei läuft dieser Prozess, die türkischen Medien von abweichenden Meinungen zu säubern, bereits seit Jahren und bezieht konsequent die neuen Informationsplattformen ein. Was wir gegenwärtig erleben, ist nur noch das Ausschalten letzter „Widerstandsnester“ einer unabhängigen Berichterstattung.