Ukraine-Krise „Ich fühle mich ein bisschen so wie die Griechen“

In der Ukraine explodieren die Preise: 57 Prozent mehr für Wasser, 73 Prozent mehr für Strom. Die Löhne steigen nicht. Im Gegenteil. Viele suchen sich Zweitjobs, um zu überleben. Sie fürchten Armut und Hunger.

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Die Ukrainer müssen extremen Verteuerungen für Gas, Mieten und Lebensmitteln leben. Ein Ende der Preissteigerungen ist nicht in Sicht. Quelle: dpa

Kiew Maria und Oleg sitzen in der Küche und rechnen. „Wir werden wohl ohne heißes Wasser auskommen müssen“, sagt Oleg. Im Sommer gehe das ganz gut, sagt das Ehepaar, dessen einzige Tochter bereits aus der Wohnung ausgezogen ist.

„Bei uns im Block wird das Warmwasser jeden Sommer abgestellt, dann duschen wir jedes Mal kalt“, sagt Oleg. Doch noch ist Winter in der Ukraine. Und auch der Tarif für kaltes Wasser wird um stolze 57 Prozent steigen. Strom wird um 73 Prozent teurer – auch in Kiew, auch für Maria und Oleg. „Ich fühle mich ein bisschen so wie die Griechen“, sagt Maria.

Die Ukrainer zittern vor immer neuen Preisexplosionen. Kaum ein anderes Thema wird dieser Tage so stark diskutiert wie die anstehenden Preiserhöhungen für Wasser und Strom. Ab dem 1. April werden die Tarife dafür um bis zu 75 Prozent steigen.

Obwohl es in den vergangenen zwölf Monaten schon zu extremen Verteuerungen für Gas, Mieten und Lebensmitteln kam, wird nun auf Druck der internationalen Geldgeber wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) erneut an der Preisschraube gedreht.

Nach Berechnungen der größten ukrainischen Tageszeitung „Segodna“ muss ein Zwei-Personenhaushalt ab April 88 Prozent mehr für Wasser, Gas und Strom zahlen, wer bislang 475 Griwna (ca. 20 Euro) zahlt, erhält demnächst eine Rechnung über 900 Griwna (circa 37 Euro). Für eine vierköpfige Familie, die auf den ukrainetypischen 65 Quadratmetern lebt, erhöhen sich die Kosten von umgerechnet 44 Euro auf dann 82 Euro. Das sind „astronomische Summen“, schreibt das Blat.

Denn in der Ukraine liegt das Durchschnittseinkommen bei gerade einmal 250 Euro. Das Land befindet sich immer noch in einer schweren Wirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt verzeichnete 2014 ein Minus von 7,8 Prozent, für dieses Jahr prognostizieren Experten minus drei Prozent. Maria und Oleg griechische fürchten deshalb griechische Verhältnisse.

Wie jetzt in der Ukraine seien auch dort ebenfalls Vertreter der Weltbank und des IWF aufgekreuzt und hätten die Regierung „erpresst“, die Verbraucherpreise zu erhöhen, ohne dabei jedoch die lahmende Wirtschaft anzukurbeln, sagt Oleg. „Wir sollen immer mehr zahlen, aber die Löhne steigen nicht, im Gegenteil.“

Er hat mittlerweile zwei Jobs. Unter der Woche ist er Busfahrer bei den Kiewer Verkehrsbetrieben, am Wochenende verdient er sich ein paar Griwna als Taxifahrer dazu. Nun sucht auch Maria nach einem weiteren Job. Sie arbeitet im Büro einer Lohnabrechnungsfirma. Das Geld aus dem Nebenverdienst gehe voll und ganz für die Gas-, Wasser- und Stromabgaben drauf.


„Genauso viel Widerstand wie in Griechenland“

Tatsächlich haben die Vertreter des IWF die weiteren Auszahlungen von zwei Krediten über mehr als 20 Milliarden US-Dollar davon anhängig gemacht, dass die Preise weiter steigen. Die Schulden der ukrainischen Versorgungsunternehmen sind im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte immer stärker angestiegen und haben nach Auskunft des Ministeriums für Regionalentwicklung und Wohnungsbau nun 13 Milliarden US-Dollar erreicht. Vor allem die schlechte Zahlungsmoral der privaten Verbraucher, aber auch der Unternehmen hat zu diesem gewaltigen Schuldenberg geführt.

Natalia Hotsjanowska, Abteilungsleiterin im Regionalministerium, verweist auf die „komplizierte Lage der Versorgungsunternehmen“. Nicht nur der staatliche Energiekonzern Naftogaz werde von einer Schuldenlast von schätzungsweise 15 Mrd. US-Dollar gedrückt, auch zahlreiche Kommunalversorger wie die Kiewwoda oder Kiewenergo stünden kurz vor dem Bankrott.

Die Regierung von Präsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk hat zwar bereits im vergangenen Jahr ein umfassendes Reformprogramm zu Sanierung und Modernisierung vorgelegt, doch es hapert an der Umsetzung.

Ein Parlamentarier der Regierungskoalition, der seinen Namen nicht öffentlich nennen möchte, zieht auch hier Parallelen zu Griechenland. „Der Zwang, hochverschuldete Staatskonzerne zu privatisieren, wird in der Ukraine auf genauso viel Widerstand stoßen wie in Griechenland“, sagt der Abgeordnete. Auch in der Ukraine arbeiteten Millionen Menschen im öffentlichen Dienst oder in staatseigenen Unternehmen. Ministerpräsident Jazenjuks Ankündigung, 20 Prozent der Angestellten entlassen zu wollen, ist bisher nicht umgesetzt worden.

In Zeiten der Krise sind Familienmitglieder, die im öffentlichen Dienst angestellt sind, oftmals die einzigen, die ein regelmäßiges Einkommen haben. „Mit meinem schmalen Gehalt muss ich nicht nur meinen Mann und meine Tochter durchbringen, sondern auch meine derzeit arbeitslose Schwester und deren Sohn“, klagt Krankenschwester Tanja. Sollte ihr Gehalt gekürzt werden oder sie ihren Job in der staatlichen Klinik verlieren, dann „müssten wir nicht nur in einer kalten Wohnung sitzen, sondern auch noch hungern“, sagt Tanja.

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