Bildungspolitik "Wir brauchen eine Lehrerreserve von zehn Prozent"

Der Unterrichtsausfall ist dramatischer als gedacht. Der Präsident des Lehrerverbands fordert personelle Reserven für die Schulen und warnt vor einem dauerhaften Qualitätsverlust im deutschen Bildungssystem.

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Unterrichtsausfall Quelle: Illustration

WirtschaftsWoche Online: Nicht nur im niedersächsischen Landtagswahlkampf eines der großen Themen: Unterrichtsausfall. Schon länger beklagt Ihr Verband, dass an deutschen Schulen deutlich mehr als die von den Schulministern behaupteten zwei Prozent des Unterrichts ausfallen. Sehen Sie sich durch die enttäuschenden Ergebnisse der IQB-Bildungsstudie an Grundschulen bestätigt?

Heinz-Peter Meidinger: Die ZEIT hat uns jetzt mit einer eigenen Recherche auf der Basis von Rückmeldungen von Eltern rechtgegeben. Tatsächlich fallen demnach bis zu zehn Prozent der Unterrichtsstunden an deutschen Schulen aus oder können zumindest nicht stundenplangemäß gehalten werden. Die Gründe sind vielfältig. Es geht nicht nur um Krankmeldungen, sondern zunehmend auch um Fortbildungen, zu denen Lehrer ja auch verpflichtet sind, um Veranstaltungen, Studienfahrten, Projekte. Die aktuelle IQB-Studie mit ihren ernüchternden, ja teilweise erschreckenden Ergebnissen ist mit Sicherheit auch eine Quittung dafür, dass viele Landesregierungen das Problem des Lehrermangels und des Unterrichtsausfalls nicht in den Griff bekommen haben.

Zur Person

Was wäre politisch zu tun, um den Unterrichtsausfall zu bekämpfen?
Notwendig wäre die Schaffung einer personellen Unterrichtsreserve von zehn Prozent, also eine Lehrerversorgung von 110 Prozent. Davon sind alle Bundesländer weit entfernt. Auch sollte Mehrarbeit von Lehrern angemessen bezahlt werden, sonst muss man sich nicht wundern, wenn in Vertretungsstunden die Motivation sehr gering ist. Aber natürlich kann die Politik nur einen Teil beitragen. Jede einzelne Schule muss da ihre Hausaufgaben bei der Organisation der Vertretungen machen.

Besonders dramatisch ist die Lage an Grundschulen.
Wir haben an Grundschulen eine echte Notsituation des Lehrermangels. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in Baden-Württemberg, Bayern und einigen anderen Ländern. Dieser Mangel geht über das übliche Schwanken zwischen Unter- und Überangebot an Lehrern weit hinaus. Ursachen dafür sind die Kinder der Flüchtlinge und der EU-Zuwanderer und die Unterschätzung des Geburtenanstiegs in den Prognosen.

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Die neue nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer will jetzt angehende Gymnasiallehrer dazu motivieren, zunächst für einige Jahre an Grundschulen zu unterrichten, weil dort der Mangel besonders groß ist. Ist das sinnvoll?
Es gibt da mehrere Modelle. Das schlechteste hat Niedersachsen. Die dortige Landesregierung teilte mehreren Hundert Gymnasiallehrern wenige Tage vor Beginn des Schuljahres mit, dass sie nicht am Gymnasium, sondern an einer Grundschule anfangen. Das nennt man Zwangsabordnung. Was das für die Stimmung der Betroffenen bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Es ist nicht so, dass Gymnasiallehrer grundsätzlich nicht aushelfen wollen. Aber man muss sich eben vorbereiten können. Bayern dagegen bietet arbeitslosen Gymnasiallehrern an, sich in zwei Jahren zum Grundschullehrer umzuqualifizieren. Sie werden dann allerdings als Beamte in einer tieferen Gehaltsstufe eingestellt. Drittes Modell ist das von NRW: Man stellt Gymnasiallehrer ein, die sich verpflichten, einige Jahre an Grundschulen zu unterrichten, garantiert ihnen aber eine spätere Übernahme ans Gymnasium. Das könnte aber natürlich dazu führen, dass dann in ein paar Jahren für die neuen Gymnasiallehrer kaum mehr Stellen da sind.

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Die andere Möglichkeit wäre der Einheitslehrer, oder zumindest die einheitliche Bezahlung aller Lehrer unabhängig von der Schulform.
Ein einheitliches Lehramt würde nur Schaden bedeuten: Für die pädagogische Qualität, auf die es besonders bei Grundschullehrern ankommt, aber auch für die fachliche Qualität etwa bei Gymnasiallehrern. Ich finde es wichtig, dass ein angehender Lehrer eine klare Zielvorstellung hat, an welcher Schulart er unterrichten will.

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