Christian Lindner muss sich entscheiden. Tritt er an? Was macht er mit der FDP, wenn er die Macht bekommt? Noch am Wahlabend entwickelt er mit Wolfgang Kubicki bei Zigarren und Alkohol in einem Berliner Hotel einen Plan. Zusammen wollen sie die Partei führen. Sie vereinbaren, dass sie einander öffentlich nicht kritisieren werden. Und am wichtigsten: Die FDP soll eine liberale Partei bleiben. Lindner und Kubicki entscheiden sich gegen einen euroskeptischen Kurs nach AfD-Vorbild. Sie entscheiden sich gegen einen islamkritischen und ausländerfeindlichen Kurs, wie ihn Gert Wilders in den Niederlanden fährt.
Das war die Situation vor vier Jahren. Die FDP war gerade mit Philipp Rösler und Rainer Brüderle an der Spitze an der Fünfprozenthürde gescheitert. Christian Lindner wurde Parteichef, Wolfgang Kubicki sein Stellvertreter. Vier Jahre lang hielt der Schwur der beiden. Und sie hatten Erfolg: Die FDP kehrt mit über zehn Prozent in den Bundestag zurück.
Lange war nicht klar, ob das gelingen würde. Ein Jahr nach der Bundestagwahl wurde drei Mal in ostdeutschen Bundesländern gewählt. Drei Mal scheiterte die FDP an der Fünfprozenthürde. Ostdeutschland war noch nie eine liberale Hochburg. Und doch schien die Partei, die seit 1948 die Politik in der Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat, in Vergessenheit zu geraten. Und selbst zu Beginn dieses Jahres war nicht klar, ob die FDP das Jahr 2017 überleben würde. Im Saarland hatte die Partei deutlich den Einzug in den Landtag verpasst.
Dass es anders kam liegt an Wolfgang Kubicki – und vor allem an Christian Lindner. Beide holten im Frühjahr in ihren Bundesländern, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, zweistellige Ergebnisse. Beide führten ihre Landesverbände in die Regierung. In Düsseldorf reichte es für Schwarz-Gelb, in Kiel regiert eine experimentelle Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP. Die FDP wird gebraucht – das war die Botschaft.
Das Beachtliche: In den vier Jahren außerparlamentarischer Opposition ist die FDP weitestgehend die alte FDP geblieben. Klar, Bildung und Digitalisierung sind mittlerweile ihr Markenzeichen. Die Partei hat einen neuen Look, spricht sich für „German Mut“ und ein „Update“ für Deutschland aus. Sie will aber zugleich immer noch Steuern senken und setzt sich eher für die ein, die arbeiten und Geld verdienen als für die, die keinen Job haben. Es ist die bekannte Programmatik, ergänzt um einige moderne Themen, die weltoffene, urbane Milieus ansprechen sollen.
Am wichtigsten: Die FDP will den Euro nicht abschaffen. Sie hetzt nicht gegen Ausländer oder Flüchtlinge. Die Versuchung, genau das zu tun, war nach der Wahl 2013 groß. Um eben nicht in Vergessenheit zu geraten. Dass sich Lindner und Kubicki dagegen entschieden, ist ihnen nicht nur hoch anzurechnen. Sie haben damit der politischen Kultur im Land einen Dienst erwiesen. Eine Partei kann Fehler machen. Sie kann sogar ihre Wähler enttäuschen wie die FDP in den Jahren 2009 bis 2013. Sie kann aus dem Bundestag fliegen. Doch bleibt sie sich treu und hinterfragt sie sich, warum sie gebraucht wird, dann honoriert das der Wähler. Ein Zehntel der Deutschen haben eine liberale Partei gewählt, die auf einen demokratischen Mitte-Rechts-Kurs setzt. Das ist eine gute Nachricht für die Bundesrepublik – gerade auch mit Blick auf das starke AfD-Ergebnis.
Lindner hat in den vier Jahren außerparlamentarischer Opposition dabei durchaus Grenzen ausgetestet. Der FDP-Chef führte einen beinharten Wahlkampf gegen Angela Merkel, gegen ihre „gesinnungsethischen Träumereien“ und gegen den „deutschen Sonderweg“ in der Flüchtlingskrise. Er forderte sie auf, die Grenzen zu schließen, ließ aber jederzeit erkennen, dass sein Wahlkampf sich nicht gegen Flüchtlinge, sondern gegen die Bundesregierung richtete. Denn anders als die AfD fordert die FDP ein Einwanderungsgesetz. Die Liberalen wollen ausländische Fachkräfte ins Land holen. Und sie wollen Schutzbedürftigen Asyl gewähren.
Zugleich sagt Lindner: Endet der Krieg, sollen die Kriegsflüchtlinge in ihr Heimatland zurückkehren. In den letzten Wochen brachte ihn das den Vorwurf ein, er mache die FDP zu einer AfD light. Wenn damit gemeint ist, die FDP bediene ausländerfeindliche Ressentiments, um gute Wahlergebnisse einzufahren, läuft der Vorwurf ins Leere. Dann müsste die Partei gegen Zuwanderung sein. Lindner verfolgt einen rechtsstaatlichen Kurs, mit dem er auch auf Härte setzt, beispielsweise durch kompromisslose Abschiebungen. Das macht die FDP aber nicht zu einer AfD light, sondern eher zu einer bundesweiten CSU – zumindest in der Flüchtlingsfrage.
Wie vor vier Jahren steht Christian Lindner nun wieder vor Entscheidungen. Die Kanzlerin wird versuchen, mit der FDP und den Grünen eine Jamaika-Koalition zu formen. Die FDP könnte also direkt aus der außerparlamentarischen Opposition in Regierungsverantwortung kommen. Mindestens drei Punkte verlangen in den anstehenden Sondierungen und möglichen Koalitionsverhandlungen besondere Aufmerksamkeit:
Erstens: Welches Europa will die FDP? Laut Parteiprogramm wollen die Freien Demokraten den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auslaufen lassen. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich der Euro-Rettungsschirm, der zusammen mit der Nullzins-Politik der EZB dafür sorgt, dass sich die Eurokrise beruhigt hat und Spekulanten nicht mehr gegen schwächelnde Euro-Staaten wetten. Zudem lehnt die FDP eine tiefere Integration der Eurozone ab, an deren Ende ein gemeinsames Budget oder Transferzahlungen von Nord- an Südländer stehen könnten. Mit Union und Grünen dürfte das zu Streit führen.
Zweitens: Welche Klima- und Wirtschaftspolitik verfolgt die FDP? Die Liberalen fordern weniger Subventionen und mehr Markt bei den Erneuerbaren Energien. In Nordrhein-Westfalen haben sich CDU und FDP dafür entschieden, dass künftig deutlich weniger Windräder gebaut werden dürfen. Mit den Grünen ist eine solche Politik kaum vorstellbar. Zudem fordert die Öko-Partei, dass dich Politik ein verbindliches Ende für den Verbrennungsmotor festlegt. Die FDP lehnt das vehement ab.
Drittens: Halten die Liberalen ihr Wort? Die FDP hatte vor acht Jahren Steuersenkungen im großen Stil versprochen – und nicht halten können. Auch diesmal fordern sie Steuersenkungen. Um mindestens 30 Milliarden Euro sollen die Bürger entlastet werden. Ein weiteres Beispiel: Christian Lindner forderte vor der Wahl einen Untersuchungsausschuss, um die Ereignisse rund um die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 aufzuklären. Gilt das noch, wenn die FDP Teil einer künftigen Bundesregierung wird? Wie vor vier Jahren gilt: Christian Lindner muss sich entscheiden.