An diesem Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschef der EU in Göteborg zu einem informellen EU-Sozialgipfel – und eine fehlt: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition in Berlin sind ihr wichtiger. Und vielleicht ahnte sie schon länger, dass den Unterhändler von Schwarz, Gelb und Grün der Durchbruch nicht in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gelingen und sich die Gespräche noch länger hinziehen würden. Schon vor Tagen ließ sie wissen, dass sie den Gipfel verpassen würde.
Man muss sich wegen des geschwänzten Gipfels nicht erregen und empören wie die sozialdemokratische Europa-Abgeordnete Maria João Rodrigues. Die Portugiesin, die den Gipfel mit vorbereitet hat, hält Merkels Fehlen für unentschuldbar und unterstellt der Bundeskanzlerin, sie verbreite den Eindruck, dass sie die soziale Dimension des europäischen Projekts für vernachlässigbar halte.
Jamaika lässt Brüssel stillstehen
Merkels Abwesenheit ist dennoch bemerkenswert, und zwar nicht nur, weil die Kanzlerin bei wichtigen Treffen in Brüssel stets zur Stelle war. Wenn die Kanzlerin an diesem Freitag auf dem Familienfoto der Staats- und Regierungschefs fehlt, dann steht die Lücke für die Abwesenheit Deutschlands auf der europäischen Bühne der vergangenen Monate. Und natürlich für die bedeutende Frage, ob die Jamaica-Koalition, so sie den zustande kommt, die Lücke wieder zu füllen gedenkt.
Seit Monaten stehen in Brüssel Projekte still, weil Deutschland wählt. Selbst Vertragsverletzungsverfahren hat die EU-Kommission nicht vorangetrieben aus Rücksicht auf den politischen Kalender in Deutschland. Und vor allem das große Projekt der Eurozonenreform kann ohne eine Regierung in Deutschland nicht in Angriff genommen werden. Wegen des politischen Vakuums in Deutschland will die EU-Kommission Anfang Dezember bis auf einen Gesetzesvorschlag zum Rettungsmechanismus ESM erst einmal nur Berichte vorlegen und die Handlungsoptionen skizzieren für eine Reform der Eurozone. Konkrete Vorschläge sollen dann erst kommen, wenn eine Regierung steht. Berlin sondiert und der Rest Europas muss warten.
Natürlich erleben andere Länder auch Regierungsbildungen, die sich in die Länge ziehen. In den Niederlanden etwa hat es rund ein halbes Jahr gedauert, bis sich die Koalitionäre zusammenrauften und das gelang nicht in der ursprünglich geplanten Formation. Als größtes Mitgliedsland der EU steht Deutschland allerdings in einer ganz anderen Verantwortung. Ohne Deutschland läuft in Brüssel nichts, der politische Kollateralschaden eines Stillstands in Berlin ist wesentlich größer, als wenn kleine Mitgliedsstaaten sich politisch neu sortieren.
Ist Europa nicht mehr wichtig?
Je länger die Koalitionäre in Berlin verhandeln, desto mehr entsteht im Rest Europas der Eindruck, dass die Deutschen sich mittlerweile selbst genug sind. Zu Europa ist den Unterhändlern bisher wenig Fortschrittliches gelungen, als Priorität der Koalition ist es nicht zu erkennen.
Wenn sich Deutschland vor allem mit sich selbst beschäftigt, ist da für den Rest Europas nur schwer verständlich, weil es dem Land wirtschaftlich so gut wie lange nicht geht. Kaum ein anderes EU-Mitglied weist eine so niedrige Arbeitslosenquote auf. Gerade erst wurde bekannt, dass die Wirtschaft im dritten Quartal im Jahresvergleich um sensationelle 2,8 Prozent gestiegen ist. Die Staatskassen sind so gut gefüllt, dass die potenziellen Koalitionäre trefflich streiten können, wem sie Wohltaten gönnen werden.
Gerade weil sie aus einer komfortablen Lage heraus startet sollte sich die künftige deutsche Regierung für den Rest Europas interessieren. Ein Deutschland, das um sich selbst kreist, wäre eine sehr schlechte Nachricht für Europa. Eine Reform Europas, die im ureigenen deutschen Interesse ist, kann ohne Berlin nicht gelingen.