Familiennachzug High Noon im Flüchtlingsstreit

Als einer der schwierigsten Punkte in den Jamaika-Gesprächen gilt die Migrationsdebatte. Die Vorstellungen liegen noch immer weit auseinander. Der Deutschen Städte- und Gemeindebund warnt vor möglichen Folgen.

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Syrische Flüchtlinge in Niedersachsen: Familiennachzug von Flüchtlingen lässt sich nur schwer in Zahlen fassen. Quelle: Swen Pfödpa

Berlin Ob die Jamaika-Parteien noch die Kurve kriegen werden? Dass es schwierig werden würde, ein solches Bündnis auszuhandeln, war CDU/CSU, FDP und Grünen von Beginn klar. Nun geht es allerdings schon fast um alles oder nichts. Vielleicht braucht es den Druck, um zu Ergebnissen zu kommen. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin verglich die Verhandlungen mit denen auf Klimagipfeln. Dort komme auch erst in der allerletzten Phase Bewegung in die Diskussion. Jetzt laufe alles auf ein „High Noon“ heraus, sagte Trittin.

Das gilt insbesondere für die großen Streitthemen. Nach einer Annäherung beim Klimaschutz bleibt der Hauptstreitpunkt die Flüchtlingspolitik – vor allem zwischen CSU und Grünen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sagte allerdings, es gebe von allen Seiten ein großes Entgegenkommen: „Von daher sollten wir das hinbekommen.“ Skeptischer äußerte sich der FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der eine „echte Schmerzgrenze“ der CSU beim Familiennachzug für Flüchtlinge ausmachte.

Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zeigte sich skeptisch, dass eine Einigung beim Streitthema Migration erreicht werden kann. Auf die Frage, ob es bei dem Thema zu einer Verständigung kommen könne, sagt der Grünen-Politiker: „Das sieht mir gerade im Moment nicht so aus.“

Bis Sonntag sollen alle Themengebiete durchgesprochen werden, um die strittigen Punkte in dem Entwurf des 61-seitigen Sondierungspapiers auszuräumen. Am Sonntagabend ist der Abschluss der Gespräche anvisiert. „Es kann klappen, es kann nicht klappen“, sagte CSU-Chef Horst Seehofer. Ein Scheitern sei nicht ausgeschlossen, hieß es in der FDP. „Wenn wir bis Sonntag 18 Uhr nicht zurande kommen, ist das Ding tot“, machte Kubicki unmissverständlich klar.

Der quasi letzte Einigungsversuch in der Flüchtlingsfrage ist für diesen Samstag angesetzt. Ob die Quadratur des Kreise gelingt, wenn die Verhandlungsführer für die Themen Flucht, Asyl, Migration, Integration sowie je ein Berichterstatter pro Partei um 12 Uhr im Konrad-Adenauer-Haus zusammenkommen, ist zum jetzigen Stand mehr als ungewiss. Das Dilemma besteht darin, dass für die CSU eine Verlängerung des im März auslaufenden Verbots des Familiennachzugs nicht persönlich verfolgter Flüchtlinge nicht verhandelbar ist. Die Grünen verlangen dagegen, den Familiennachzug für diese Gruppe - vor allem Syrer und Iraker - von März 2018 an wieder zu erlauben.

Seehofer wies am Freitag ein Kompromissangebot zur gedrosselten Familienzusammenführung bei Flüchtlingen zurück. „Gut, wenn solche Vorschläge auch auf den Tisch kommen, aber es geht um einige Hunderttausend Personen, die für eine Familiennachführung infrage kommen“, sagte er. Der CSU-Chef bezog sich auf die Frage, wie er das Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zugeschriebene Angebot bewerte, ein Kontingent von monatlich 500 Menschen beim Familiennachzug zuzulassen.

Man wolle eigentlich überhaupt keinen Familiennachzug bei Menschen, die nur vorübergehend Schutz fänden und dann wieder zurück in ihre Heimat müssten, bekräftigte der bayerische Ministerpräsident. Er ließ offen, ob ein Familiennachzug im Umfang der Deutschland verlassenden Flüchtlinge ein akzeptabler Vorschlag sein könnte.


Kommunen gegen Wiedereinführung des Familiennachzugs

Eine solche Festlegung käme in der Union allerdings nicht gut an. Zumal die innenpolitischen Sprecher von CDU und CSU in Bund und Ländern am Freitag den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutz generell infrage stellten. „Jamaika mag eine kleine Insel der Glückseligkeit sein, aber Jamaika kann auch einen Hurrikan auslösen für die Politik in Deutschland“, sagte der innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt, Chris Schulenburg, nach einer Tagung mit seinen Amtskollegen in Magdeburg. Daher sei die Frage des Familiennachzugs für die CDU eine rote Linie.

Rückendeckung kommt von den Kommunen. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, warnt die Jamaika-Parteien davor, den Familiennachzug wieder zu erlauben. „Die derzeitige Übergangsregelung verschafft den Städten und Gemeinden die dringend notwendige Zeit, um sich auf die Integration derjenigen Geflüchteten mit Bleibeperspektive konzentrieren zu können“, sagte Landsberg dem Handelsblatt. „Mit Blick auf die Integrations- und Sprachkurse sowie den noch wachsenden Bedarf an Plätzen in Schulen, Kitas sowie auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sind die Voraussetzungen für den Familiennachzug für viele Städte und Gemeinden nicht gegeben.“

Landsberg gab zudem zu bedenken, dass Geflüchtete sich derzeit stark auf bestimmte Ballungsgebiete und Städte konzentrierten. „Dadurch kommt es zu einer ungleichen Lastenverteilung, und es entsteht die Gefahr sozialer Brennpunkte oder Ghettobildungen.“

Er knüpfte den Familiennachzug an Bedingungen. Betroffene Flüchtlinge sollten ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie selber sicher können, und es sollte überdies ausreichender Wohnraum vorhanden sein. „Wir brauchen dringend mehr Unterbringungsmöglichkeiten, bevor Menschen nachgeholt werden“, betonte der Städtebund-Geschäftsführer. „Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung und Geflüchteten auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum müssen vermieden werden.“ Daher sollte das Thema sozialer Wohnungsbau ganz oben auf der Agenda einer neuen Bundesregierung stehen.

Landsberg sieht auch keine rechtliche Pflicht für einen Familiennachzug. „Aus dem Verfassungsrecht, dem Völkerrecht, dem Unionsrecht und der Kinderrechtskonvention folgt kein unbedingtes Nachzugsrecht für Flüchtlinge mit subsidiären Schutzstatus“, sagte er. Trotzdem gelte auch für subsidiär Schutzberechtigte, dass „in Härtefällen und aus dringend humanitären Gründen weiterhin Ausnahmen von der Aussetzung des Familiennachzugs möglich“ seien.

Der Schutzstatus ist an bestimmte Kriterien geknüpft, an denen sich das Bundesamt für Migrathion und Flüchtlinge (Bamf) laut Gesetz zu orientieren hat. Demnach greift der subsidiäre Schutz, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.

Subsidiär schutzberechtigt seien Menschen, „die stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und sie den Schutz ihres Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen können oder wegen der Bedrohung nicht in Anspruch nehmen wollen“, erläutert das Bamf auf seiner Webseite. Ein ernsthafter Schaden könne sowohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Gemeint ist etwa die Verhängung beziehungsweise Vollstreckung der Todesstrafe oder Folter.


Unterschiedliche Zahlen zum Familiennachzug

Wie viele Menschen ihren Angehörigen nach Deutschland folgen würden, lässt sich nicht genau beziffern. Insofern ist verwunderlich, dass Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) sogar eine konkrete Zahl genannt hat: „Für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus sehe ich keine Möglichkeit, den Familiennachzug wieder zuzulassen. Das sind nämlich noch einmal 300.000 Personen, die solche Anträge stellen könnten“, sagte er kürzlich der „Passauer Neuen Presse“. Eine Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt indes zu deutlich niedrigeren Zahlen als Kauder.

Grundsätzlich gilt: Asylsuchende, die in Deutschland Schutz bekommen, haben das Recht, Ehepartner und minderjährige Kinder nachzuholen. Für Flüchtlinge mit eingeschränktem Status hatte die große Koalition den Familiennachzug im März 2016 jedoch für zwei Jahre ausgesetzt.

Das IAB, die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA), legte im Oktober eine Prognose vor. Sie geht davon aus, dass bis Ende 2017 insgesamt etwa 600.000 volljährige Flüchtlinge mit Schutz hier leben werden, darunter 200.000 mit subsidiären Status.

Der IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker schätzt, dass auf die 400.000 anerkannten Asylbewerber und Flüchtlinge bis Ende 2017 rund 100.000 bis 120.000 Angehörige im Ausland entfallen dürften, die einen Anspruch auf Familiennachzug haben. Für den Fall, dass 2018 auch subsidiär Geschützte ihre Familien wieder nachholen könnten, würden 50.000 bis 60.000 hinzukommen. Die Gesamtzahl läge damit bei 150.000 bis 180.000 Angehörigen, die nach Deutschland kommen dürften.

Dass es nicht mehr sind, hat laut Brücker vor allem zwei Gründe: Viele der in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland gekommenen Asylbewerber sind jung und ledig. Von jenen wiederum, die verheiratet sind und Kinder haben, sind verhältnismäßig viele zusammen mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet. Das Institut beruft sich auf eine mit dem Bamf vorgenommene Befragung von 4800 Flüchtlingen im zweiten Halbjahr 2016.

Das Bundesinnenministerium allerdings bezweifelt die Verlässlichkeit solcher Daten. „Nachhaltig belegbare Zahlen, wie viele Familienangehörige der Kernfamilie im Schnitt zu einem in Deutschland anerkannten international Schutzberechtigten nachziehen, gibt es nicht“, erklärte das bisher CDU-geführte Ministerium kürzlich.

Zumindest einen Anhaltspunkt geben aber Zahlen aus dem Auswärtigen Amt. Danach bemühten sich zuletzt rund 70.000 Syrer und Iraker um Familiennachzug zu Angehörigen in Deutschland. In dieser Zahl lagen an den zuständigen deutschen Auslandsvertretungen in Beirut, Amman, Erbil, Ankara, Istanbul und Izmir entsprechende Terminanfragen vor.

Von Anfang 2015 bis Mitte 2017 erteilte das Auswärtige Amt bereits rund 102.000 Visa zum Familiennachzug für Syrer und Iraker. Auf Basis der Terminbuchungen und bisheriger Werte schätzt das Ministerium, dass bis 2018 etwa 100.000 bis 200.000 hinzukommen könnten. Für 2015 bis einschließlich 2018 dürfte es beim Nachzug von Syrern und Irakern danach also grob geschätzt um 200.000 bis 300.000 Angehörige gehen.

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