Große Koalition Der politische Alltag ist beendet

Zerbricht jetzt die schwarz-rote Koalition? Oder kommt die Ehe für alle – quasi über Nacht? Über bemerkenswert aufgeladene Stunden in der Hauptstadt.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gesprächsreihe

Es war mehr Stocken als Reden, mehr Suchen als Finden, ein einziges Zögern und Ausbalancieren auf dem politischen Hochseil. Sicher hat Angela Merkel am Montagabend noch nicht gewusst, was sie da genau auslösen würde auf der Interview-Bühne der Zeitschrift „Brigitte“, als sie über die Ehe für alle sprach. Aber sehr wahrscheinlich, mit all ihrer Erfahrung und ihrem gerade legendären Auf-der-Hut-sein, hat sie es bereits gespürt. Hat es spüren müssen.

Wer dann Vizekanzler Sigmar Gabriel am Dienstagvormittag dabei zusah, wie dieser begnadete Instinktpolitiker Witterung aufnahm, der wusste: Stunden wie diese, so voller Druck und Dichte, sind selten in der Hauptstadt. „Madame, geben Sie Gewissensfreiheit – und zwar jetzt“, sagte Gabriel in Richtung der Kanzlerin.

Buchstäblich über Nacht hat das politische Berlin eine Debatte, die vieles verändern kann. Eine Debatte, in der es nur vordergründig um die Ehe für alle und Gewissensfragen geht – alle Beteiligten wissen das. Was nun verhandelt und dem Belastungstest unterworfen wird, ist größer: Charakter, Führungsstärke, Überzeugungen, aber ebenso politische Taktik, Nervenstärke, Chuzpe.

Angela Merkel auf der einen, die SPD mit Martin Schulz und Sigmar Gabriel auf der anderen Seite, haben eine bemerkenswerte Konstellation erzeugt: eine Lage nämlich, deren denkbare Ausgänge gleichermaßen sensationell anmuten. Vielleicht kommt noch in dieser Woche die vollständige Gleichstellung ins Gesetzblatt – und das nur, weil ein Merkelanhänger bei einem Talk-Event die richtige Frage stellte. Vielleicht kontert die SPD die ach so mächtige Kanzlerin also nach allen Regeln der Kunst aus. Vielleicht aber zerbricht die Koalition auf den letzten Metern. Oder die Attacke der Genossen auf das strategische Beidrehen Merkels fällt noch auf diese zurück. Niemand kann es sagen. Und das macht die Sache so elektrisierend.

Es ist, als habe der politische Betrieb plötzlich und unwiderruflich den Aggregatzustand gewechselt. Natürlich, letzte, lange vorbereitete und diskutierte Gesetze werden die schwarz-toten Koalitionäre in dieser letzten Sitzungswoche noch über die parlamentarische Bühne bringen. Doch der politische Alltag, das mehr oder minder friedliche Koalieren mit Absprachen und Bündnistreue, ist mit dem heutigen Tag beendet.

Einen „Anschlag auf die Demokratie“ hatte Schulz, der SPD-Kanzlerkandidat, am Sonntag auf dem Parteitag vorgeworden. Ein hartes Wort war das. Der SPD-Chef wollte, dass der Wahlkampf endlich Staub aufwirbelt, dass Merkel runter muss vom präsidialen Ross, in die Arena gezwungen wird. Es ist schneller gelungen, als er selbst zu hoffen gewagt hat.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%