Nicht alle Inszenierungen glücken. Als sich Kohl und der französische Staatspräsident Francois Mitterand am 22. September 1984 in Verdun zum Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft minutenlang die Hände reichen, ist der Spott der Zeitgenossen groß. Das förmliche Erinnern an die Schlacht von 1916 wirkte wie ein diplomatisches Kompensationsgeschäft für die ausdrückliche Nicht-Einladung der Bundesrepublik zur 40-Jahresfeier des D-Day drei Monate zuvor. Es fehlt ein Anlass, ein Ereignis, ein runder Jahrestag; die Geste scheint einstudiert, die Innigkeit berechnet. Vollends daneben gerät wenige Monate später die symbolische Versöhnung mit den USA auf dem Soldatenfriedhof Kolmeshöhe bei Bitburg. Obwohl auch Mitglieder der Waffen-SS hier beerdigt sind, spricht US-Präsident Ronald Reagan nur ganz allgemein von Opfern des Krieges und Tätern, die sich vor Gott zu verantworten hätten, während Helmut Kohl sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischt...
Was viele Beobachter damals befremdet, ist nicht die Vorliebe Helmut Kohls für emphatisches Erinnern, nicht seine Neigung, den „Frieden in Europa“, die „transatlantische Freundschaft“ und die „westliche Wertegemeinschaft“ mit symbolischen Gedenkakten zu bekräftigen. Sondern sein Bedürfnis, Deutschland im gemeinsamen Rückblick zugleich rehabilitiert und entlastet zu wissen. Warum sonst spricht Kohl damals von der „Gnade der späten Geburt“? Er tritt den westlichen Partnern als Vertreter einer Nachkriegsgeneration entgegen, die nicht (mehr) haftbar gemacht werden kann für die Verbrechen der Nationalsozialisten, historisiert die Fragen von Schuld und Verantwortung und verallgemeinert „die Kriegsopfer“ auf beiden Seiten, um Verbindlichkeit herzustellen. Sein zeremonielles Trauern ist zutiefst missverständlich, paradox: voller Demut und frei von Bußfertigkeit zugleich – erinnernder Schlussstrich und mahnende Selbstamnestie. Drei Tage nach seiner Bitburg-Visite wird Helmut Kohl von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dem Kanzler seit langem in herzlicher Abneigung verbunden, für seine gefühlig diffuse Geschichtspolitik zurecht gewiesen. „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung“, stellt Weizsäcker in einer stilbildenden Rede 40 Jahre nach Kriegsende im Deutschen Bundestag klar, und: „Wir dürfen den 8. Mai nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Richard von Weizsäcker, der kühle Kopf, nicht Helmut Kohl, findet damals die richtigen Worte. Aber Helmut Kohl, der emotionale Macht- und Tatmensch, nicht Richard von Weizsäcker, stellt damals die richtigen Weichen. Gleich nach seiner Wahl zum Regierungschef am 1. Oktober 1982 schlägt er den außenpolitischen Kurs ein, der seine Kanzlerschaft prägen wird – ein Kurs, der auf die Vertiefung der wertegebundenen Freundschaft zu den Vereinigten Staaten und auf die „Irreversibilität“ des europäischen Einigungsprozesses abzielt. Zur Erinnerung: Die weltpolitische Lage ist damals von der Bipolarität des Ost-West-Konflikts bestimmt, von zwei Supermächten, die sich mitten in Deutschland waffenstarrend gegenüber stehen, vom Propagandakrieg zweier Weltanschauungssysteme, die sich mit Vernichtung und Atomtod drohen. Kohl, in historischen Linien denkend, außenpolitisch prinzipienfest bis zur Starrköpfigkeit, zerstreut damals, in einer „Schicksalsstunde Deutschlands“, die Sorgen der Amerikaner, die deutsche Regierung könne einer Friedensbewegung nachgeben, die Hunderttausende von Demonstranten gegen die „Nachrüstung“ mobilisiert. Und Kohl drängt zugleich, in denkbar enger Zusammenarbeit mit dem einstigen Erzfeind Frankreich, auf das, was in Europa heute selbstverständlich geworden ist: auf durchlässige Grenzen und eine eng abgestimmte Sicherheits- und Verteidigungspolitik, auf einen offenen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung.
Vor allem aber knüpft Kohl persönliche Beziehungen, die auf Vertrauen und Respekt, auf politische Freundschaft, mindestens aber auf Berechenbarkeit und Verlässlichkeit gegründet sind. Sie werden 1989/90 die Voraussetzung sein für das Gelingen der deutschen Einheit. Der konservative Texaner George Bush sen. (US-Präsident 1989 bis 1993) zum Beispiel ist im Juni 1983 Reagans Vize, als Kohl ihm in Krefeld persönlich sein Wort gibt: Deutschland wackelt nicht beim Nato-Doppelbeschluss. Der stolze Sozialist Francois Mitterrand (Französischer Staatspräsident 1981 bis 1995), der sich vom Ausbau der Europäischen Union einen Prestigeverlust der Grande Nation erwartet und zugleich eine wirtschaftspolitisch dominante Bundesrepublik fürchtet, konvertiert an der Seite Kohls zum Anhänger einer Europa-Politik, die Deutschland aufs Freundschaftlichste fesselt. Selbst Margaret Thatcher (Premierministerin Großbritanniens 1979 bis 1990), die für Kohls geschichtliches Pathos und seine postnationalen Träumereien nur Verachtung übrig hat, die schon früh vor einem europäischen Solidar- und Superstaat warnt und die deutsche Einheit zunächst strikt ablehnt, willigt am Ende in den Souveränitätsvertrag ein: Die Gefahr eines sich sich absichtsvoll verzwergenden Deutschlands, das Brüssel-Europa dominiert, scheint ihr berechenbarer zu sein als die Gefahr einer berlin-deutschen Mittelmacht in einem Europa der Nationalstaaten.