Helmut Kohl Ein Kanzler für die Geschichtsbücher

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Regno, ergo sum

Kein Wunder, dass Kohl es auch mit der Stabilität der D-Mark nicht so genau nimmt. Nach der geglückten deutschen Einheit muss es jetzt auch schnell vorwärts gehen mit den „Vereinigten Staaten von Europa“. Die politischen Lokomotiven in diesem Prozess sollen eine zügige Osterweiterung der EU und eine gemeinsame Währung sein. In Frankreich, das sich gerade von einer Franc-Krise erholt hat, kann man sich 1988 nicht einmal im Traum vorstellen, dass Deutschland auf die D-Mark verzichtet: „Die Macht Deutschlands“, weiß Mitterrand, „beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe.“ Doch Kohl („Führen heißt, eine Vision in die Realität umsetzen.“) ist auch diesmal bereit, Deutschland zur europäischen Subsidiarmacht zu schrumpfen – koste es, was es wolle. Gegen den Willen seiner Finanzminister, gegen den Einspruch der Bundesbank und erst recht gegen die Wirtschaftsdaten einiger Euro-Länder, verzichtet Kohl auf Deutschlands Status einer finanziellen Nuklearmacht und setzt 1991 in Maastricht seinen Fahrplan zur Währungsunion durch. Der Euro soll forcieren, was geschehen muss, weil in den Geschichtsbüchern von morgen geschrieben steht: Und siehe, Europa ward friedlich, einig, eins. Noch 2002, bei der Einführung des Euro, ist Kohl von der historischen Tragweite seiner Entschlusskraft, vom „Geist der Geschichte“ ergriffen: „Ich bin mir sicher: In fünf oder sechs Jahren werden auch die Briten mit dem Euro zahlen… In zehn Jahren wird es die einheitliche Währung auch in Zürich geben.“

Man hat Kohl viel vorgeworfen, damals und heute: ruchlosen Optimismus (Wilhelm Hennis), politischen Unverstand (Johannes Gross), einen merkwürdigen Willen zur „währungspolitischen Selbstentmächtigung Deutschlands“ (Hans Peter Schwarz). Diese Rügen treffen ins Schwarze – und doch auch wieder nicht. Denn der stupenden Naivität, mit der sich Kohl Europa „als großen, farbenprächtigen Blumenstrauß“ vorstellte, stand eine störrische Unbeirrbarkeit entgegen, mit der er die EU – das avantgardistischste internationale Projekt der Nachkriegszeit – seiner mutmaßlichen Vollendung entgegentrieb. „Die Alternative heißt, zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“, sagte Kohl – er war der letzte deutsche Kanzler, der überhaupt noch fähig war, einen solchen Satz zu denken. Ein visionärer Kanzler, der Deutschlands Zukunft konsequent von der Vergangenheit her entwarf, das heißt: von der Geschichte eines Landes, das seine historische Schuld zur Staatsräson und zum postnationalen Programm erhoben hatte. Anders gesagt: Kohl war, im neutralen Sinn des Wortes, ein Mann von gestern. Er hat im Blick zurück alles richtig gemacht – und war eben deshalb im Blick nach vorn beängstigend scheuklappenblind. Margaret Thatcher hat bereits 1989 beeindruckend scharf gesehen, in welche Verwicklungen Kohl das Land mit seiner Geschichtsbesessenheit führen wird: „Weil die Deutschen eine Scheu davor haben, sich selbst zu regieren, versuchen sie ein europaweites System zu schaffen, in dem sich keine Nation mehr selbst regiert… Wenn die Deutschen glauben, auf diese Weise ihre Probleme lösen zu können, unterliegen sie einem Trugschluss.“

Ein Mann von gestern war Kohl auch in der Innenpolitik. Seine Kanzlerschaft (1982 – 1998) ist zweifellos der Schlussstein der Bonner Republik – und es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet er mit der Steuerung des neuen, vereinten Deutschlands in einer blockfreien, globalisierten, technisch vernetzten Welt überfordert war. Kohl bringt, spätestens seit seiner Wiederwahl 1994, nicht mehr die Kraft auf, der sozial-korporativen Marktwirtschaft einen frischen Anstrich zu geben. Die Deutschland AG tuckert wie ein verrosteter Supertanker durchs neuerdings umtoste Weltwirtschaftsmeer… Haushaltsnöte und Zinszahlungen fressen seine Bimbes-Spielräume auf… Die Zahl der Arbeitslosen verdoppelt sich auf vier Millionen… – allein Kohl sieht sich von lauter Miesmachern umstellt, bunkert sich in ein System von Macht, Gefolgschaft, Treue ein, doziert stundenlang über alle Einwände hinweg. Mit Wolfgang Schäuble, dem Fraktionschef der Union im Bundestag, kommt es damals zum Zerwürfnis. Kohl trägt ihm seine Nachfolge an, verspricht ihm die Staffelübergabe bis 1998. Doch weil der Kanzler sich inzwischen von Zweiflern, Kritikern und Feinden umstellt sieht und Schäuble auf Einhaltung des Versprechens drängt, heizt er seinerseits das Klima des Misstrauens an, um den innerparteilichen Machtkampf auf die Spitze zu treiben und sich noch einmal als Meister des politischen Hauptfachs zu erweisen: Regno, ergo sum – ich walte, also bin ich. 

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