Die deutsche Sozialdemokratie will nun also doch noch mal regieren. Was haben Schulz und seine treu zu ihm stehenden Genossen sich dafür vorgenommen?
Indem sich die Berichterstattung auf die Forderung nach der „Bürgerversicherung“, also der Abschaffung privater Krankenversicherungen, fokussiert, tut sie der Partei einen großen Gefallen. Denn es ist vielleicht das vernünftigste und alt-sozialdemokratischste Ziel der künftigen Regierungspartei.
In seiner Eröffnungsrede zum Parteitag präsentierte Schulz seinen Genossen, Wählern und dem Rest der Republik aber ein anderes, sehr viel wichtigeres Ziel: der vermutlich künftige Vizekanzler und frühere EU-Parlamentspräsident will die „Vereinigten Staaten von Europa“ – mit einer eigenen Verfassung und ohne Staaten, die das nicht wollen. Die sollen die EU lieber verlassen. Im Jahre 2025 (nicht etwa 2050, nein, in sieben Jahren) soll es den europäischen Staat geben.
Die großen Grundsatzprogramme der SPD
Die SPD gilt als klassische Programmpartei. Die CDU/CSU wird von den Sozialdemokraten gerne als „Kanzlerwahlverein“ verspottet - auch im Bundestagswahljahr 2013 dominiere inhaltliche Leere und Unschärfe. Bei der SPD standen Inhalte meist über Personen. Seit 1863 hat sie sich acht Grundsatzprogramme gegeben.
Nach dem Eisenacher Programm (1869) und dem Gothaer Programm (1875) der Gründerorganisationen Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV), Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) und Sozialistischer Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) ist das Erfurter Programm das erste Programm der SPD. Als erste Partei in Deutschland fordert sie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen, eine Abschaffung von Gesetzen, die Frauen benachteiligen, und die Einführung eines Acht-Stunden-Tages sowie ein Arbeitsverbot für Kinder unter 14 Jahren. Insgesamt strebte die Partei eine Überwindung des herrschenden Systems an - das Programm war vom Marxismus geprägt.
Im Görlitzer Programm bekannte sich die Partei erstmals dazu, nicht nur Klassenpartei der Arbeiter zu sein, sondern eine Art linke Volkspartei. Fast visionär mutet heute das Heidelberger Programm von 1925 an, in dem eine Zurückdrängung des Finanzkapitals gefordert wurde. Aus ökonomischen und politischen Gründen sei die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsunion notwendig, die SPD schlug daher die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor.
Am bekanntesten ist das Godesberger Programm, das gemeinhin unter der Überschrift „Abschied vom Marxismus“ firmiert. Es wurde für 30 Jahre Richtschnur der Partei und ebnete den Weg hin zu einer Volkspartei mit über einer Million Mitgliedern in den 70er Jahren. Der Weg zum Sozialismus war nun nicht mehr das erklärte Ziel. Die Partei bemühte sich um eine Annäherung an die katholische Kirche und versuchte, auch für die Wirtschaft attraktiver zu werden.
Nach dem Berliner Programm 1989 dauerte es nur acht Jahre bis 2007 das aktuell gültige Hamburger Programm beschlossen wurde. Es soll die Partei für das 21. Jahrhundert positionieren, etwa mit Blick auf eine politische Gestaltung der Globalisierung. Wichtige Punkte sind die internationale Stärkung der Demokratie und eine Eindämmung der Macht von global agierenden Konzernen. Aber im Fokus stehen auch Themen wie Klimaschutz und Sicherung ökologischer Lebensgrundlagen. Die Partei fordert zudem ein sozialeres und demokratischeres Europa sowie eine stärkere Beteiligung der Bürger („Bürgergesellschaft“).
Begründung? Schulz: „Lasst uns endlich Mut haben, Europa voranzubringen. Vier weitere Jahre deutsche Europa-Politik à la Wolfgang Schäuble kann sich unser Kontinent nicht leisten.“ Also Leerformeln. Später ergänzt der gelernte Buchhändler noch ein Zitat des englischen Dichters Robert Browning. „Ich wage von Dingen zu träumen, die es niemals gab, und frage: Warum nicht?“
Vielleicht, weil es den eigenen Interessen schadet? Auf so eine Idee scheint in der heutigen SPD niemand zu kommen.
1863, als die Sozialdemokratie noch blutjung und vital war und gebraucht wurde, sagte ihr Gründungsheld Ferdinand Lasalle: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen, was ist und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und dem Bemänteln, was ist.“ Nach diesem Maßstab ist die die Schulz-SPD von 2017 eine Inkarnation der Kleingeisterei. Allerdings konnte Lasalle nicht wissen, dass 155 Jahre später gerade mit dem Bemänteln dessen, was ist, Politik gemacht werde. Und man Nachfragen mit „Warum nicht?“ ausreichend beantworten würde.
Die deutsche Sozialdemokratie entstand - Schulz und seine Genossen haben es vielleicht vergessen – nicht als Partei zur Durchsetzung des Guten und der Barmherzigkeit, sondern als politische Interessenvertretung der abhängig Arbeitenden in Deutschland. Ob es noch ein „Proletariat“ gibt hierzulande, kann man bezweifeln. Zur Abschaffung des Elends der einstigen Arbeiterklasse und damit zum inneren Frieden in Deutschland hat die Sozialdemokratie in hohem Maße beigetragen und sich historischen Ruhm erworben. Das waren die alten Sozis vergangener Zeiten, lange, lange vor Schulz und Scholz und Nahles und Schwesig.
Die größte Leistung der alten Sozialdemokraten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war vermutlich, dass sie sich vom Ziel der Revolution allmählich abwandten und den mühevollen aber letztlich erfolgreichen Weg der Erzwingung sozialer Reformen gingen. Die SPD war spätestens nach dem Abgang der USPD im Ersten Weltkrieg immer eine Kraft des maßvollen Realismus. Man kämpfte vor allem für die Interessen der kleinen Leute in Deutschland.
Davon ist in der Partei von Schulz nicht mehr viel übrig. Der Mann aus Würselen redet zwar davon, das Leben „der Menschen“ zum Besseren zu verändern. Aber was er darunter versteht, ist etwas, das den materiellen Interessen zumindest der so genannten kleinen Leute in Deutschland nicht entgegenkommt.