Kulturkritik Macht Konsum dumm?

Der Tod von Benno Ohnesorg vor 50 Jahren war das Fanal der 68er-Revolte: Verdirbt uns die Warenwelt? Verheißt die Kunst uns Rettung?

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Fernseher mit Nägeln

Kunst und Leben gehen ihre eigenen Wege, so will es die traditionelle Ästhetik, schön säuberlich getrennt: Die Kunst als der Ort dessen, was im Leben möglich wäre und nicht ist. Doch manchmal kommen sie sich ins Gehege, wie am 2. Juni 1967, gegen 20.30 Uhr, in Berlin-Charlottenburg, als nach stundenlangen Straßenkämpfen ein Schuss aus der Dienstpistole eines Polizisten den Studenten Benno Ohnesorg in den Kopf trifft. Denn just zur selben Zeit, ein paar hundert Meter nur entfernt, lauscht der Schah von Persien als Staatsgast in der Deutschen Oper der „Zauberflöte“: Mozarts Utopie einer aufgeklärten Menschheit, der Triumph des Lichts über die Macht der Finsternis, steht in einem skandalösen Kontrast zur düsteren Berliner Wirklichkeit.

Der Tod Ohnesorgs wurde zum Fanal der 68er-Revolte, zur Initialzündung einer Fundamental-Opposition, die sich gegen das „System“, die „repressive Kultur“, die „bürgerliche Gesellschaft“, überhaupt gegen das „Ganze“ richtete, das als das „Unwahre“ galt – und deshalb nicht sein sollte. So hatten es die Studenten bei einem ihrer akademischen Lehrer gelesen, beim Frankfurter Meisterphilosophen Theodor W. Adorno: dass die Welt unter den Bedingungen des kapitalistischen Warentauschs verloren und der Konsum das Reich des „falschen Bewusstseins“ sei, ein Manipulationsinstrument, das die Menschen zum Einverstanden-Sein mit der eigenen Entfremdung verführt.

Und dass angesichts des „Verblendungszusammenhangs“ der „bestehenden Verhältnisse“ allein die Kunst als „Ort der Wahrheit“ übrig bleibe, als rettende Gegenwelt, die dem stampfenden Weltlauf Paroli bietet.

Was ist von einer solchen Frontstellung, von der Verheiligung der Kunst und der Diabolisierung des Konsums, heute zu halten? Hat sich die Kunst nicht längst dem ökonomischen Argument ausgeliefert? Und ist nicht umgekehrt der „distinktive Konsum“ zu einem Ort der Wahrheit avanciert, an dem die Deutschen heute Haltung demonstrieren?

Adorno war die Vermischung von Kunst und Konsum ein Graus. In der 1947 erschienenen, in den Sechzigerjahren wiederaufgelegten „Dialektik der Aufklärung“ machten Max Horkheimer und er der „Kulturindustrie“ den Prozess. Vor allem die Verdikte über Film und Reklame standen den Studenten Modell für eine radikale Kulturkritik, die den Sexappeal des Durchschauens hatte und den Gestus des kritischen Über-den-Dingen-Stehens nährte: Der Geist im Spätkapitalismus verkomme zur Ware, so Adorno, das Geschäft sei eine Legitimationsideologie für die Produktion von Schund.

Hollywood war für ihn das Symbol des „falschen Bewusstseins“, ein Gefängnis des schönen Scheins, so totalitär wie die Kulturindustrie im Ganzen, die den Zuschauer zum „ewigen Konsumenten“ degradiere, mit standardisierten Ersatzbefriedigungen abspeise und damit gerade um das Beste betrüge.

Gibt es ein Entrinnen aus dem Gehäuse von Adornos Kulturindustrie? Der marxistische Philosoph Georg Lukacs sprach höhnisch vom „Grand Hotel Abgrund“, auf dessen Terrasse es sich die Frankfurter Theoretiker gut gehen ließen, um über das Elend der Kultur zu sinnieren. Und Adorno? Der stilisierte die Kunst zum Statthalter des „ganz Anderen“, nicht im Sinne eines erbaulichen, die Verhältnisse bestätigenden Freizeitvergnügens, sondern im Gegenteil: als intellektuelle Herausforderung und sprengende Kraft.

Es galt, gerade in hermetischen Werken, etwa bei Samuel Beckett oder dem Komponisten Anton Webern, den Vor-Schein einer zu sich selbst befreiten Gesellschaft zu erkennen, das Heilspotenzial der Kunst zu entbinden – gegen die vom Massenmarkt bestimmten Bedürfnisse der Konsumenten.

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