Deutschlands Arbeitgeber und Wirtschaftsexperten haben die Reformvorschläge von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz für den Arbeitsmarkt auseinandergenommen. „Viele Vorschläge sind ohne präzise Kenntnis der Zahlen oder der Rechtslage in Deutschland formuliert“, heißt es in einer Bewertung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), aus der die Zeitungen der Funke Mediengruppe zitieren. Eine Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-Bezugs würde „eine schnelle Wiederaufnahme von Arbeit erschweren“.
Zudem habe Schulz „viel zu hohe Zahlen“ zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen genannt, hieß es weiter. In der Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren seien tatsächlich gut zwölf Prozent der Beschäftigten befristet tätig. Schulz hatte dagegen im Interview der „Bild“-Zeitung von knapp 40 Prozent gesprochen.
Der SPD-Kanzlerkandidat hatte am Montag angekündigt, mit einer Änderung der umstrittenen Agenda 2010 in den Wahlkampf ziehen zu wollen. „Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten und ihre Beiträge gezahlt haben und zahlen, haben ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie - oft unverschuldet - in große Probleme geraten“, hatte der 61-Jährige am Montag bei einer Arbeitnehmerkonferenz seiner Partei in Bielefeld gesagt. In der „Neuen Westfälischen“ begründete er die Motivation für seinen Vorstoß: „Die Agenda war in vielen Punkten ein Erfolg, in manchen nicht. Wir müssen Lösungen mit heutigen Antworten finden und nicht mit einer rückwärts gewandten Debatte.“
Die Geschichte der SPD
Ferdinand Lassalle gründet am 23. Mai den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig, der Vorläufer der SPD. Das Datum gilt als Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie.
Auf einem Parteitag in Erfurt gibt sich die SPD ein neues Programm und wird zur Massenpartei - für die Rechte von Arbeitern.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November in Berlin die Republik aus. SPD und USPD bilden für kurze Zeit eine Revolutionsregierung.
Nach den Wahlen zur Nationalversammlung wird der Sozialdemokrat Friedrich Ebert Reichspräsident.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar endet die Weimarer Republik. Die Sozialdemokraten lehnen am 23. März das Ermächtigungsgesetz ab, im Juni verbietet Hitler die SPD. In der Folge werden zahlreiche Sozialdemokraten verfolgt, ermordet und in Konzentrationslagern eingesperrt.
SPD und KPD werden in der sowjetischen Besatzungszone unter Druck zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint.
Mit dem Godesberger Programm wandelt sich die SPD im Westen von einer Klassen- zu einer pluralistischen Volkspartei.
Zum ersten Mal ist die SPD in der Bundesrepublik an einer Regierung beteiligt: der Großen Koalition mit der CDU/CSU.
Willy Brandt ist Bundeskanzler der SPD/FDP-Koalitionsregierung. Nach seinem Rücktritt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume folgt ab 1974 Helmut Schmidt als Kanzler (bis 1982).
West- und Ost-SPD vereinigen sich zu einer gesamtdeutschen SPD.
Dritter SPD-Bundeskanzler wird Gerhard Schröder (bis 2005). Die SPD regiert mit den Grünen. Mit dem Namen Schröder sind auch die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ verbunden.
Die SPD kommt mit Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier auf nur 23 Prozent der Stimmen und verliert ihre Regierungsbeteiligung. Nach der Wahlniederlage wird Sigmar Gabriel zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.
Warnungen vor einer Aufweichung der Agenda 2010 kamen auch von anderen Wirtschaftsexperten. „Die Politik sollte sich auch im Wahlkampfmodus erst einmal fragen, welche Grundpfeiler in den vergangenen Jahren die Stabilität des deutschen Arbeitsmarkts getragen haben“, sagte der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, der „Rheinischen Post“. „Ein wesentlicher Bestandteil waren die Reformen der Agenda 2010, die den beeindruckenden Abbau der Arbeitslosigkeit und gleichzeitigen Aufbau der Beschäftigung seit 2005 mitgetragen haben.“
Ifo-Instituts-Präsident Clemens Fuest sagte der Zeitung: „Bei undifferenzierter Rückabwicklung der Agenda drohen Gefahren für den Arbeitsmarkt und für das Wirtschaftswachstum in Deutschland.“
Die SPD und die K-Frage – ein Hang zur Sturzgeburt
... der SPD-Kanzlerkandidaten hat schon oft für besondere Geschichten gesorgt. Vier Beispiele.
1998 - GERHARD SCHRÖDER: Damals konkurrieren Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine um die Spitzenkandidatur. Entschieden wird das Rennen am 1. März bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Der kraftstrotzende Ministerpräsident Schröder hat angekündigt, in der K-Frage zurückzuziehen, wenn er mehr als zwei Prozentpunkte verliert. Schröder aber rockt die Wahl, holt für die SPD mit 47,9 Prozent ein Plus von 3,6 Prozentpunkten. Irgendwann klingelt in Hannover ein Telefon. Schröder geht ran, es ist Lafontaine: „Na, Kandidat“, soll der Saarländer zur Begrüßung gesagt haben. Lafontaine macht den Weg für Schröder frei, bildet mit ihm im Wahlkampf eine Doppelspitze.
Schröder schlägt Kohl und wird Kanzler. Doch die Freundschaft mit Oskar zerbricht. Im März 1999 schmeißt der gekränkte Finanzminister Lafontaine hin, wird später Chef der neuen Linkspartei. „Und so resultierte aus dem Dualismus der sozialdemokratischen Doppelspitze des Jahres 1998 die Spaltung der Linken sieben Jahre später“, schreibt der Göttinger Parteienforscher und SPD-Kenner Franz Walter für den „Spiegel“.
2009 - FRANK-WALTER STEINMEIER: Am 6. September 2008, einem Samstag ein Jahr vor der Wahl, sickert durch, dass Außenminister Steinmeier bei der K-Frage zugreift. Erst heißt es noch, das sei im besten Einvernehmen mit Parteichef Kurt Beck erfolgt. Doch am Tag darauf kommt es bei der Klausur der Spitzengenossen zum Putsch vom Schwielowsee. Der glücklose Pfälzer Beck schmeißt entnervt hin, spricht von Intrigen. Franz Müntefering kehrt an die Parteispitze zurück. Dem in Umfragen populären Steinmeier geht auf der Strecke die Luft aus. Gegen Angela Merkel hat er am Ende keine Chance, die SPD stürzt mit 23 Prozent auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ab.
2013 - PEER STEINBRÜCK: Auch dieses Mal kommt es anders, als es sich die Parteispitze vorgenommen hat. Drei Kandidaten stehen zur Auswahl: Ex-Finanzminister Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und Steinmeier. Ende September 2012 macht Steinmeier, der sich eine erneute Kandidatur nicht antun will, beim Abendessen mit ein paar Journalisten seinen Verzicht deutlich. Das Drehbuch, die Verkündung möglichst bis zu Beginn des Wahljahres hinauszuzögern, ist im Eimer. Gabriel, der schon damals selbst nicht will, fliegt überstürzt aus München nach Berlin zurück, um Steinbrück in der Parteizentrale zu präsentieren. Die Kür ist verpatzt, es wird ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf. Steinbrück und die SPD landen bei 25,7 Prozent. Gabriel führt die SPD per Mitgliederentscheid in die große Koalition.
2017 - MARTIN SCHULZ: Monatelang zaudert Gabriel, ob er selbst Angela Merkel herausfordern soll. Sein mieses Image in den Umfragen wirkt wie einbetoniert. Viele in der Partei stöhnen, mit dem unbeliebten Goslarer werde die SPD nichts reißen. Andere Spitzengenossen wollen Gabriel vor die Wand fahren lassen, um die Partei dann neu zu ordnen. Gabriel, der bereits länger an Rückzug denkt, will allein entscheiden. Er verdonnert die Führung zum Schweigen. Am 29. Januar soll das Rätsel um die K-Frage aufgeklärt werden. Der Zeitplan hält lange, die SPD zeigt sich diszipliniert.
Es kommt der 21. Januar. In Montabaur treffen sich Gabriel und Martin Schulz. Umfrage-Liebling Schulz denkt, er wird „nur“ Außenminister. Gabriel, der zum Wohl der SPD zurückziehen will, bietet ihm Parteivorsitz und Kandidatur an. Der Ex-EU-Politiker greift zu. Gabriel weiht den mit ihm befreundeten „Stern“-Chefredakteur Christian Krug ein. Weite Teile der SPD wissen von dem spektakulären Deal noch nichts. Gabriel will die Gremien am 24. Januar informieren. Daraus wird nichts - wieder gibt es eine Sturzgeburt. Eine halbe Stunde vor einer Fraktionssitzung wird im Internet das Titelbild des neuen „Sterns“ publik: „Der Rücktritt“.
Der Kritik an Schulz' Plänen schloss sich auch das Institut der deutschen Wirtschaft an. Direktor Michael Hüther warnte in der „Passauer Neuen Presse“ ebenfalls vor einer verlängerten Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I. „Eine Ausdehnung der Zahlung führt nicht zu höherer Wiederbeschäftigung, das wissen wir aus vielen Studien und Befragungen. Es wäre reine Alimentierung.“ Ähnlich äußerte sich der Koblenzer Arbeitsmarktforscher Stefan Sell im MDR: „Das ist eine Korrektur, die dem Einzelnen dann ein, zwei, drei Monate hilft. Aber es ändert an dem Hartz-IV-System doch gar nichts.“
Der frühere Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, geht davon aus, dass die SPD mit ihren neuen Wahlversprechen den Arbeitsmarkt nicht verbessern werde. „Das größte Arbeitsmarktproblem ist immer noch die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit“, sagte der Ökonom dem „Handelsblatt“. Den Langzeitarbeitslosen helfe eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds nicht.
Unterstützung für Schulz kam dagegen vom konservativen SPD-Flügel „Seeheimer Kreis“. „Das sind Reparaturmaßnahmen, wo die Agenda 2010 nicht so gewirkt hat, wie wir uns das vorgestellt haben, wo es Fehlentwicklungen und Missbrauch gab“, sagte Seeheimer-Chef Johannes Kahrs der „Rheinischen Post“.
Positiv nahm auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie die Pläne auf. Ihr Vorsitzender Michael Vassiliadis sagte der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“: Die „sachgrundlose“ Befristung von Arbeitsverträgen „ist ein Übel, das inzwischen fast jede Familie kennt - egal, ob Akademiker oder einfache Arbeiter dazugehören.“ Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) stimmte dem Vorstoß von Schulz zu: „Wer länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat als andere, sollte auch mehr davon haben“, sagte er der Zeitung.