Martin Schulz wechselt nach Berlin Ein Spitzenkandidat, der keine Basis braucht

Die Ankündigung von Martin Schulz ist nach Steinmeiers Präsidentenkür ein erneutes Negativbeispiel für politische Personalentscheidungen im Hinterzimmer. Innerparteiliche Demokratie wird so zur Farce.

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Martin Schulz Quelle: AP

Martin Schulz, amtierender Präsident des Europäischen Parlaments, hat nicht nur verkündet, dass er in die Bundespolitik wechseln werde. Er weiß schon mehr: nämlich, dass er auf dem Spitzenplatz der nordrhein-westfälischen Landesliste der SPD zu den Bundestagswahlen antreten werde.

Wie kann er das wissen? Gilt nicht auch für die SPD das Verfassungsgebot der innerparteilichen Demokratie? Eigentlich. Das Parteiengesetz besagt, dass die Landeslisten, also die Chancen, ein Bundestagsmandat auch ohne eigenen Wahlkreis zu erringen, auf einem Parteitag in einem demokratischen Verfahren besetzt werden sollen. 

Nun weiß jeder, der sich nur ein klein wenig mit den Niederungen der praktischen Politik befasst, dass die innerparteiliche Demokratie nicht nur in der SPD zu einer Fassade verkommen ist. Schulz hat nun vor dem Wahlvolk diese Fassade eingerissen.

Nicht wie im Parteiengesetz bestimmt, von unten nach oben, sondern de facto von oben nach unten werden Posten und Wahlchancen zugeteilt. Die Besetzung von Landeslisten gehört in allen Parteien – oder zumindest in jenen, die reelle Chancen auf Mandate zu vergeben haben – zu den hässlichsten Aspekten unseres politischen Betriebes: Listenplätze werden in den Hinterzimmern der Parteigremien nach Kriterien vergeben, unter denen die Eignung des Kandidaten oft nur sekundäre Bedeutung hat. Persönliche Loyalitäten und Tit-for-Tat-Abmachungen sind meist wichtiger. Nach dem Muster: „Wenn ihr mich oder meinen Kandidaten wählt, setz ich mich auf höherer Ebene für euer Anliegen xy ein.“ Dieses Machtspiel zu beherrschen, ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis der meisten Berufspolitiker.

Aber für die politische Klasse und die etablierten Parteien ist diese Farce der innerparteilichen Demokratie wohl eine Quelle für die wachsende Abneigung weiter Teile des Wahlvolkes. In den USA und mittlerweile auch in Frankreich küren die Parteien zumindest die Kandidaten für die wichtigsten Posten in Vorwahlen (Primaries) unter Parteianhängern. Das schafft zumindest die Gewissheit, dass Kandidaten schon mal durch ein Fegefeuer des Vorwahlkampfes gehen müssen, bevor es zum Entscheidungskampf gegen den politischen Gegner geht. Entsprechende Initiativen in den deutschen Parteien sind im Sande verlaufen. Und der Aufstieg von Trump dank Primaries und gegen den Willen aller Hinterzimmer dürfte innerhalb der Machtzirkel der deutschen Parteien ein starkes Argument gegen öffentliche Vorwahlen sein.

Dann doch lieber einen Schulz. Er ist die Inkarnation des berechenbaren Parteipolitikers, scheint aber laut Umfragen dennoch relativ beliebt zu sein. Vermutlich, weil sein Eintreten für die Sache der EU glaubwürdig rüberkommt. Er gilt als europapolitischer Überzeugungstäter, was er nochmal unterstrich durch seinen Brüsseler Abschiedsgruß, „nun von der nationalen Ebene aus für das europäische Projekt kämpfen" zu wollen.

Dennoch: Nach der Hinterzimmer-Kür von Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten, liefert das deutsche politische Establishment seiner wachsenden Kritikerschar nun erneut ein schlagkräftiges Argument. Der Mann, der sich selbst jahrelang zum obersten Wächter der Demokratie in der Europäischen Union stilisierte, aber die europäischen Abgeordneten (und vor allem die nationalen Regierungen der EU, bei denen Schulz monatelang höchst beflissen in eigener Sache antichambrierte) nicht überzeugen konnte, ihn nochmal zum europäischen Parlamentspräsidenten zu wählen, hat sich stattdessen jenseits aller innerparteilichen Demokratie in den nächsten Bundestag bugsiert. 

Während die Hauptstadtjournalisten nun munter darauf los spekulieren, welche höheren Absichten Schulz und die SPD bewegen - ein einfacher Hinterbänkler im Bundestag wird der nordrhein-westfälische Listen-Primus sicher nicht werden wollen – dürften sich die meisten der rund 110.000 SPD-Mitglieder in NRW eher eine andere Frage stellen: Wozu werden wir eigentlich noch gebraucht?  Zum Kleben von Schulz‘ Wahl-Plakaten vielleicht.

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