Vor dem Parteitag Die SPD ist ausgelaugt, ermattet, entkräftet

Die SPD und ihr Chef Martin Schulz schleppen sich zum Parteitag. Quelle: dpa

Die SPD und ihr Chef Martin Schulz schleppen sich zum Parteitag, der am Sonntag über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entscheiden soll. Niemand unter den Spitzengenossen weiß so recht, wozu die Regierungsmacht verwenden werden sollte.

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Wenige Stunden nach der Sondierungsnacht verschickte die SPD-Spitze am vergangenen Freitagmittag eine E-Mail an ihre Mitglieder. Solche Mails gibt es öfter. Doch dieses Schreiben war dann doch alles andere als gewöhnlich. Weil es ein Dokument sozialdemokratischer Ratlosigkeit war.

Am Ende der Mail prangten die Unterschriften der dreizehn Verhandler, angefangen vom Parteivorsitzenden Martin Schulz über die Stellvertreter bis hin zur Fraktionschefin Andrea Nahles. Doch was sie in den zehn Absätzen davor zu sagen hatten – genauer gesagt: wie wenig - das sprach Bände. Nach ein paar pathosgetränkten Zeilen zur Europapolitik war der erste große Erfolg, den die Spitzengenossen vermeldeten, ein „öffentlich geförderten sozialer Arbeitsmarkt für 150.000 Menschen“.

Bei allem Respekt für Langzeitarbeitslose und deren harten Kampf zurück ins Arbeitsleben: Wer eine neuerliche große Koalition zuallererst damit begründen will, für eine Minderheit einen kleinen Sieg errungen zu haben, der hat eben keine richtige Begründung. Die SPD könnte eine kluge, innovative, faire und fortschrittsfreudige Politik für die rund 40 Millionen fleißigen Arbeitnehmer in diesem Land machen – aber sie verteilt lieber ein bisschen Geld an 150.000.

Die einst so stolze SPD ist anno 2018 am Ende ihrer programmatischen Möglichkeiten. Das Sondierungspapier ist durchzogen vom Geist der Verlustangst und Aufstiegsskepsis. Von Aufbruch, Zuversicht und Kreativität keine Spur. Kurzum: Es ist durchzogen von der SPD.

Natürlich, es wird eine Menge Geld versprochen für Investitionen in Schulen und Infrastruktur. Doch mehr Geld allein übertüncht nicht den Mangel an Ideen. Wo zum Beispiel ist der diskussionswürdige Vorschlag von Andrea Nahles aus dem Wahlkampf geblieben, allen Deutschen ein „Chancenkonto“ für individuelle Weiterbildung oder Gründung zu vermachen? Von solchen Vorstößen bräuchte es viel mehr. Wo wiederum wäre ein frischer Impuls in der Bildungspolitik, der eine Dynamik erzeugen könnte wie einst die von der SPD erfundene Exzellenzinitiative für Hochschulen?

Stattdessen macht die neue Groko in spe lieber in der Rentenpolitik nahtlos dort weiter, wo sie vor der Bundestagswahl aufgehört hat. Die Mütterrente wird erneut erhöht, was angesichts des gut abgesicherten Empfängerinnenkreises ein teurer Vier-Milliarden-Irrtum ist. Das stabile Rentenniveau wird sich angesichts der alternden Gesellschaft erst recht kaum halten lassen. Und das neueste Renommierprojekt der SPD, die Grundrente, könnte sich noch als größter Fehler in eigener Sache erweisen: Irgendwann werden auch die gutmütigsten SPD-Wähler erkennen, dass man 35 Jahre im Beruf braucht, um in den Genuss dieser Senioren-Wohltat zu kommen. Sie werden dann zu Recht fragen: Sind 25 oder 30 Jahre Maloche für kleinen Lohn etwa keine Lebensleistung, die es zu respektieren gälte?

„Die SPD wäre von Sinnen, wenn sie diese Chance nicht nutzen würde“
Ex-Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement Quelle: dpa
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Das wenige Neue also, dass sich die SPD überlegt hat, trägt nicht. Die Partei ist ausgelaugt, ermattet, entkräftet (was – nebenbei bemerkt – in wirtschaftspolitischer Hinsicht auch für den Koalitionspartner gilt). Und ihr Führungspersonal entweder desorientiert, demotiviert oder nur in eigener Sache unterwegs.

Vor einigen Jahren, als Martin Schulz noch nicht SPD-Chef, sondern EU-Parlamentspräsident war, hat er einmal von einer Begegnung mit dem Regisseur Wim Wenders erzählt. Wenders habe beklagt, dass die Idee Europa zum Brüsseler Apparat geronnen sei - und dass die Menschen heute glaubten, der Apparat sei die Idee. Ob Schulz seitdem schon einmal auf den Gedanken gekommen ist, dass auch die große Idee der Sozialdemokratie zur Partei geronnen ist - und die Wähler mit ihr die Lust an der Idee verloren haben?

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