Werner Abelshauser Die wahren Gründe des Wirtschaftswunders

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard war nicht der Vater des deutschen Nachkriegsbooms, sagt der Historiker Werner Abelshauser. Die Politik hatte am Aufschwung der Fünfzigerjahre in Wahrheit nur einen geringen Anteil.

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Werner Abelshauser, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld Quelle: Presse

WirtschaftsWoche: Professor Abelshauser, das legendäre „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegsjahre ist im deutschen Bewusstsein tief verankert. Als Vater des Booms gilt Ludwig Erhard. Zu Recht?
Werner Abelshauser: Nein – auch wenn er vieles richtig gemacht hat. Den Aufschwung hätte es unter gleichen Bedingungen wohl unter jedem Wirtschaftsminister gegeben. Die zum Teil zweistelligen Wachstumsraten der Fünfzigerjahre waren nicht politisch induziert, sondern wirtschaftlich erwartbar. Es ging um die Rückkehr zum alten Wachstumspfad, also um Rekonstruktionswachstum, wie es in der Fachsprache heißt. Der Aufschwung war auch kein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Es entstand schnell eine hohe Nachfrage nach deutschen Produkten im Ausland. Zugespitzt ausgedrückt: Es hat nach dem Krieg kein Wirtschaftswunder im wörtlichen Sinne gegeben.

von Bert Losse, Konrad Fischer

Aber wie konnte die deutsche Volkswirtschaft nach einem verheerenden Krieg so schnell wieder genesen?
Es ist ein Mythos, die deutsche Wirtschaft sei am Ende des Krieges zerstört gewesen. Zerbombt waren die zivilen Quartiere der Städte, aber nicht die Fabriken. Der westdeutsche Kapitalstock war sogar im Vergleich zu 1936 um 20 Prozent gewachsen und noch dazu leistungsfähiger. Selbst in den Augen der US Air Force war der Bombenkrieg deshalb ein „kostspieliger Fehlschlag“. Die Alliierten haben die deutsche Rüstungsindustrie kaum angegriffen - die wurde zu gut verteidigt. Auch blieb die Demontage deutscher Anlagen überschaubar, weil die USA rasch merkten, dass eine florierende deutsche Wirtschaft für die Stabilität Europas unerlässlich ist. Hinzu kam, dass sich viele Unternehmen vor dem Krieg auf so genannte Dual-Use-Güter spezialisiert hatten, die sich gleichermaßen militärisch und zivil nutzen ließen. Da musste die Produktion nach dem Krieg nicht groß umgestellt werden.

Für das Wiederanlaufen der Produktion brauchte man aber Personal. Gab es angesichts der vielen Kriegstoten nicht eine gewaltige Fachkräftelücke?
Im Gegenteil! Die Bevölkerung in Westdeutschland ist bis Anfang der Fünfzigerjahre um zehn Millionen Menschen gewachsen. Das waren vor allem Vertriebene aus dem Osten. Sie waren in der Regel ebenso gut ausgebildet wie die Einheimischen. Schlechter Qualifizierte blieben meist in der DDR hängen. Drei Millionen gut ausgebildeter Zuwanderer aus der DDR kamen noch hinzu.

Zur Person

Ist der Wirtschaftswunder-Mann Erhard also am Ende ein politischer Mythos?
Erhard war in der Bevölkerung äußerst beliebt. Er hat es geschickt verstanden, sich den Wirtschaftsboom persönlich zuschreiben zu lassen. Auch die CDU, wo er viele Gegner hatte, inszenierte ihn in Wahlkämpfen als Garanten von „Wohlstand für alle“. Sein großes ökonomisches Verdienst liegt aber rückblickend an ganz anderer Stelle.

Nämlich?
Erhard  hat schon Anfang der Fünfzigerjahre erkannt, welch starke Rolle die deutsche Exportwirtschaft als Ausrüster der Schwellenländer spielen kann, damals etwa von Argentinien, Chile, Mexiko, der Türkei oder Indien. Er wusste, dass Europa als Absatzmarkt auf Dauer nicht ausreicht und wollte eine ökonomische Abhängigkeit Deutschlands von Europa verhindern, wie sie den USA vorschwebte. Sein Ministerium hat alles getan, um durch „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“ Exporthürden ab- und Wettbewerbsvorteile auszubauen. Die Abgesandten ausländischer Staaten standen Schlange bei Erhard, und wenn es sein musste, reiste er im weißen Anzug durch Indien. Die Rückkehr zur Weltmarktorientierung der deutschen Wirtschaft – das ist Erhards wahres Erbe. Belohnt wurde diese Strategie umso mehr, als mit China 1978 und Russland 1990 alte „Großkunden“ auf den Weltmarkt zurückkehrten.

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