Wirtschaftssystem Deutschland braucht keine neue Innovationskultur

Die Begeisterung für den „unternehmerischen Staat“ ist wieder erwacht. Wer aber neue Technologien politisch durchsetzen will, verkennt die Stärken der gewachsenen deutschen Innovationskultur.

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Quelle: Fotolia

Immer wieder wird behauptet, dass Deutschland eine neue Innovationskultur aufbauen müsse. Man blickt mit einer Mischung aus Faszination und Sorge einerseits in den fernen Westen der USA, also ins kalifornische Silicon Valley. Und anderseits in den Fernen Osten auf die wirtschaftliche Aufholjagd der asiatischen Schwellenländer.

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Es stimmt schon: das kalifornische Silicon Valley ist seit vielen Jahren ein Symbol für radikale Innovationen, visionäres Unternehmertum, und findiges Wagniskapital. Und die dort ansässigen Unternehmen nutzen ihre strategischen Ressourcen längst nicht mehr nur auf ihrem angestammten Kompetenzfeld der Informationstechnologie. Google, Tesla und andere aus dem Silicon-Valley-Milieu stammende Unternehmen sind auch Treiber bei der nachhaltigen Mobilität, ein Thema, das für die Zukunft der deutschen Automobilindustrie entscheidend sein wird.

Für Unruhe sorgt auch, dass chinesische Unternehmen mittlerweile in der Lage sind, sich etwa im Bereich der erneuerbaren Energien gegenüber deutschen Wettbewerbern durchzusetzen. Zur Erklärung dieser Erfolge wird gerne auf die Steuerungskapazität des Staates verwiesen. Die chinesische Innovationspolitik erscheint dann als Protoptyp durchsetzungsfähigen staatlichen Handelns – und Gegensatz zu den Problemen der Bund-Länder-Koordinierung und der Schwäche politisch initiierter Innovationskonsortien in Deutschland und der EU.

Die Forderung nach einer neuen Innovationskultur war denn auch zentrales Thema des unter anderem vom Stifterverband der deutschen Wirtschaft einberufenen „Forschungsgipfels“, der Ende März in Berlin tagte. Sein Leitmotiv: die Notwendigkeit, das deutsche Innovationssystem mit seinem auf schrittweise Veränderungen ausgerichteten Modus zugunsten einer auf radikale, bruchhafte Neuerungen setzenden Arbeitsweise umzugestalten. Damit wären technologische Felder wie die Informationstechnologie bzw. die Biotechnologie zu erschließen. Ihnen traut man zu, in den kommenden Jahrzehnten umfassende ökonomische und soziale Strukturwandlungen zu bewirken. Strategien zur „Digitalisierung“ und „Biologisierung“ prägen daher auch die aktuellen innovationspolitischen Verlautbarungen der Bundesregierung.

In Diskussionen zwischen Spitzenvertretern aus Wissenschaft, Unternehmen und Politik wurden auf dem Forschungsgipfel die Leibilder einer neuen Innovationskultur diskutiert, die sich für die Umsetzung radikaler technologischer Neuerungen eignen sollte. Die Schlagworte Risikobereitschaft, Offenheit und Flexibilität standen hier im Vordergrund. Zum anderen scheint die Frage entscheidend, inwiefern der Staat unternehmerische Aufgaben wahrnehmen könnte.

Diese innovationspolitische Aufbruchsstimmung ist durchaus beeindruckend – gerade angesichts des in anderen Politikbereichen eher verhaltenen Reformeifers. Doch die Forderungen nach einer neuen Innovationskultur vernachlässigen einen entscheidenden Einwand: nämlich die Frage, ob sich Innovationskulturen überhaupt zielgerichtet aufbauen oder verändern lassen.

Wer Innovationskulturen angemessen debattieren möchte, wäre gut beraten, zunächst länderspezifische Spezialisierungsmuster in den Blick zu nehmen. Denn Werthaltungen und Verhaltensweisen, die sich in bestimmten Kulturen verdichten, sind kaum politisch konstruierbar. Zudem ist die regionale und sektorale sowie organisations- und technologiebedingte Formenvielfalt von Innovationskulturen zu berücksichtigen. Konkret zum Beispiel: Der südwestdeutsche Mittelstand unterscheidet sich von der Berliner Start-Up-Szene – von den Besonderheiten multinationaler Konzerne ganz zu schweigen. Unterschiede in Wissensbasis und Wettbewerbsorientierung kommen ebenso zum Tragen, wie Besonderheiten in lokaler Einbettung und internationaler Vernetzung.

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