Die erste Phase war schwierig, die zweite wird noch schwieriger. Darin sind sich in Brüssel alle einig, bevor der EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag die zweite Phase der Brexit-Verhandlungen einleitet. Die Staats- und Regierungschef werden der britischen Premierministerin Theresa May signalisieren, dass die Voraussetzungen für den Übergang erfüllt sind. Der formale Beschluss zu Phase zwei fällt am Freitag, wenn May längst wieder abgereist ist.
Zehn Monate haben Europäer und Briten nun Zeit, um die Konditionen für eine Übergangsperiode und die genauen Modalitäten der Beziehung danach zu verhandeln. EU-Ratspräsident Donald Tusk spricht bereits von einem „furiosen Rennen gegen die Zeit“.
Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel, denn ohne Einigung droht ein harter Brexit. Großbritannien und die EU würden dann nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) miteinander handeln, alleine auf Pkw würden zehn Prozent Zölle anfallen. Beide Seiten würde das hart treffen. Gerade erst rechnete ifo-Präsident Clemens Fuest vor, dass Großbritannien in einem solchen Szenario Einbußen von 16 Milliarden Euro im Jahr entstehen würden. Auch die EU hätte einen beträchtlichen Schaden von jährlich 44 Milliarden Euro. Alleine Deutschlands Handel mit Großbritannien könnte, so Fuest, um 33 Prozent einbrechen.
Der harte Brexit und die Folgen – für beide Seiten ein Schreckensszenario
Bei einem harten Brexit würden Zölle nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) anfallen. Alleine bei Pkw betragen die 10 Prozent. Deutschlands Exporte würden nach einer aktuellen Studie des Forschungsnetzwerks Econpol um 33 Prozent sinken.
An Großbritanniens Grenzen würden nicht nur Zoll- sondern auch Passkontrollen stattfinden. Die Wirtschaft fürchtet erhebliche Zeitverzögerungen. Der Autohersteller Honda hat bereits angekündigt, dass Zollkontrollen nicht vereinbar seien mit seiner Just-In-Time-Lieferkette.
Beim EU-Austritt fällt Großbritannien aus dem Studentenaustauschprogramm Erasmus hinaus. EU-Bürger, die künftig in Großbritannien studieren wollen, müssen sich auf hohe Studiengebühren einstellen. Bisher darf Großbritannien von EU-Studenten nicht mehr verlangen als von Inländern.
Bisher sind britische Forschungseinrichtungen die größten Empfänger von EU-Forschungsgeldern. Ohne besondere Vereinbarungen werden britische Forschungseinrichtungen keinen Zugang mehr zu EU-Programmen haben. Britische Forscher beklagen schon jetzt im Vorfeld, dass Kollegen vom Kontinent weniger Interesse an der Zusammenarbeit zeigen.
Britische Flugzeuge verlieren nach dem Brexit ihre Landerechte in der EU. Ohne ein spezielles Abkommen haben britische Fluglinien keinen Zugang mehr zu EU-Flughäfen. Andersherum können europäische Linien britische Flughäfen nicht mehr anfliegen.
Beide Seiten haben also ein großes wirtschaftliches Interesse daran, einen harten Brexit zu vermeiden. Die Europäer haben bisher mehrfach versucht, den Briten Brücken zu bauen. Gegen ein Problem kommen sie allerdings nicht an: Großbritanniens Planlosigkeit. Auch anderthalb Jahre nach dem Brexit-Referendum weiß die britische Regierung nicht wirklich, wohin sie das Land führen will. Ohne klare Orientierung fallen Verhandlungen schwer – und ein harter Brexit wird wahrscheinlicher.
Die Volten nach der Einigung zur ersten Phase haben den Eindruck britischer Desorientierung noch verstärkt. Kaum hatten Brüssel und London vergangene Woche einen Durchbruch vermeldet, zweifelte der britische Brexit-Minister David Davis dessen Verbindlichkeit an. Und Ministerpräsidentin Theresa May stellte vor dem britischen Parlament ihre finanzielle Zusage in Frage.
In London mischt sich politischer Streit mit Ignoranz. Im Kabinett von Theresa May herrschen ganz unterschiedliche Ansichten, wie erstrebenswert ein Deal mit den Europäern nun wirklich ist. Den Hardlinern ist zudem nicht bewusst, was auf dem Spiel steht, wenn es zu einem harten Brexit kommt. „Man könnte die Aussagen für bösartig halten, aber meist steckt nur Unwissenheit dahinter“, sagt ein EU-Diplomat.
Von Brexit-Minister Davis ist bekannt, dass er die Vorlagen seiner Beamten nicht liest, weil er ihnen unterstellt, das Land ohnehin nur in der EU halten zu wollen. Ebenso wie sein für Handel zuständiger Kollege Liam Fox schwebt ihm vor, dass Großbritannien die Union verlässt, deren Vorteile aber weiter in vollem Umfang genießt. Liam Fox strebt ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Briten an, vergisst dabei jedoch, dass die EU bei bisherigen Handelsdeals mit Drittstaaten nie den Dienstleistungssektor mit einbezogen hat. Genau der wäre für Großbritannien aber wichtig, weil die anderen Sektoren der Wirtschaft eine untergeordnete Rolle spielen.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Jede Woche werden neue Details bekannt, die London in ein schlechtes Licht rücken. Davis gab kürzlich erst zu, dass die Regierung die Auswirkungen des Brexits auf die gesamte Wirtschaft bisher nicht abgeschätzt hat, von einzelnen Sektoren ganz zu schweigen. Ohne Folgenabschätzung kann die britische Regierung aber nur schwer eine Strategie für die Freihandelsgespräche entwickeln.
In Brüssel und den nationalen Hauptstädten wundern sich viele über den britischen Dilettantismus. Die Situation ist allerdings zu ernst für Schadenfreude. Gerade weil der Rest Europas die Konsequenzen eines harten Brexits realistischer einschätzt, war bisher der Wille groß, den Briten entgegenzukommen. Wenn London weiterhin so unbeholfen agiert wie bisher, könnte aber beiden Seiten schlicht die Zeit für einen Deal ausgehen.