In der Schlussphase der Koalitionsverhandlungen hatte die Kanzlerin dazu aufgerufen, "das Zentrale nicht aus dem Auge [zu] verlieren". Das bedeute, wie sie im selben Statement sagte, eine Regierung zu bilden "zum Wohle der Menschen". Und: "Es geht um das Wohl des Landes." Sie spielte damit vermutlich auf den Amtseid an, in dem Bundeskanzler und Bundesminister schwören, dass sie ihre "Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden" werden.
Dieses "Wohl" ist ein gefälligeres Wort für das, was sonst "Interesse" genannt wird. Die Eidesformel verpflichtet die Kanzlerin und ihre Minister auf die Vertretung des gemeinsamen Interesses aller Deutschen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Offenbar nicht mehr für die vermutlich bald in Berlin Regierenden.
Auch wenn Martin Schulz nun doch nicht Außenminister wird, so hat er mit dem von ihm maßgeblich geprägten Europa-Kapitel des Koalitionsvertrages einen nachhaltigen und fatalen Einfluss auf das Regierungsprogramm ausgeübt. Denn dieses Kapitel ist ein Dokument der Selbstlosigkeit, ja, fast schon der Selbsterniedrigung Deutschlands innerhalb Europas.
Am Anfang steht da der Satz: "Deutschland hat Europa unendlich viel zu verdanken. Auch deshalb sind wir seinem Erfolg verpflichtet." Es endet mit dem Satz: "Wir treten gemeinsam dafür ein, dass Deutschland seiner europäischen Verantwortung in einem Geist partnerschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Solidarität gerecht wird."
In dem Kapitel ist von "gemeinsamen Interessen" der EU die Rede, nicht aber von deutschen. Erst in einem anderen Kapitel, nämlich dem letzten des Koalitionsvertrages über die "Arbeitsweise der Regierung und der Fraktionen" ist von "bestmögliche[r] Vertretung deutscher Interessen auf europäischer Ebene" die Rede, die durch "geschlossenes Auftreten gegenüber den europäischen Partnern und Institutionen" erreicht werden soll. Ohne aber an dieser Stelle das Interesse zu erläutern.
Das Europa-Kapitel ist durchdrungen vom Geist der Vergemeinschaftungsfreudigkeit, die Martin Schulz auch im SPD-Bundestagswahlkampf nicht versteckte. Besonders deutlich wird das in dem Satz: "Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit". Das hatten Sigmar Gabriel und Martin Schulz schon vor den Wahlen einhellig gefordert. Wie sie mit dem Versprechen, ihre Steuern nach Brüssel zu überweisen, deutsche Wähler begeistern wollten, war von Anfang an schleierhaft. Doch für Schulz und die SPD-Führung scheint das kein Kriterium gewesen zu sein. Noch-Außenminister Gabriel hatte sogar schon ganz konkret einen zusätzlichen Beitrag von 10 Milliarden Euro genannt. Bislang zahlt Deutschland netto 13 Milliarden.
Die SPD ist die treibende Kraft, doch die Unionsparteien scheinen gegen diese Selbstaufgabe deutscher Interessen im Europa-Kapitel offenbar wenig Widerstand geleistet zu haben. Das Kapitel gehörte zumindest den Berichten zufolge nicht zu den besonders umstrittenen, hart verhandelten.
Martin Schulz - ein Rückblick in Zitaten
„Ich habe von Anfang an vor dem Schulz-Hype gewarnt. Ich kann aber nicht ausschließen, dass ich mich selber davon habe beeindrucken lassen.“ (in der „Zeit“ auf die Frage, welche Fehler er bis dahin im Wahlkampf gemacht habe, Mai 2017)
„Frau Merkel wird in den letzten zehn Tagen wahrscheinlich noch von dem einen oder anderen immer noch für unschlagbar gehalten. Aber am 25. heißt der Bundeskanzler Martin Schulz.“ (in einem Interview der Sender Phoenix und Deutschlandfunk zu seinen Chancen bei der Bundestagswahl, August 2017)
„Mit dem heutigen Abend endet zugleich unsere Zusammenarbeit mit der CDU und der CSU in der großen Koalition (...) Angela Merkel hat in den vergangenen Wochen ihre Präferenz für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen zu erkennen gegeben. Zu dieser Regierung steht die SPD in Opposition.“ (am Abend der Bundestagswahl, September 2017)
„Ja, ganz klar. In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“ (am Tag nach der Bundestagswahl, September 2017)
„In den Wochen nach der Wahl haben wir ein denkbar schlechtes Bild abgegeben. Öffentlich wurde bei uns mehr über Personalfragen als über Inhalte gestritten. Das darf uns so nie wieder passieren.“
„Wir müssen die Distanz zwischen oben und unten überbrücken. In der Gesellschaft und in der Partei.“ (beide Zitate auf dem SPD-Bundesparteitag in Berlin über Probleme der Partei, Dezember 2017)
„Man muss nicht um jeden Preis regieren. Das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen. Das ist auch richtig. “ (beim Bonner SPD-Sonderparteitag zu Koalitionsverhandlungen mit der Union, Januar 2018)
Deutschland könnte, um zusätzliche eigene Belastungen zu minimieren, vor allem darauf drängen, dass der EU-Haushalt aus Anlass des Brexits insgesamt abgespeckt wird. Allein der immer noch üppige Agrarhaushalt böte viel Spielraum. Aber schon vorab, ohne jegliche Bedingung zu stellen, einen höheren deutschen Beitrag in Aussicht zu stellen, ist ein Vorgang von einmaliger Verantwortungslosigkeit vor dem deutschen Steuerzahler. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass Deutschland tatsächlich nicht darum herumkommt, mehr in die Brüsseler Kasse zu zahlen, so gibt man mit entsprechenden Vorab-Zusagen jegliche Trümpfe zur Erlangung anderer Vorteile bei EU-internen Verhandlungen aus der Hand.