Das Ergebnis des Referendums in der Türkei ist eindeutig. Das Land wird den autoritären Kurs seines Staatspräsidenten mittragen. Die Türkei scheidet damit aus dem Reigen der demokratischen Nationen aus, da das Präsidialsystem von Recep Tayyip Erdoğan die Trennung der Gewalten nicht mehr kennt, sondern die volle Machtausübung alleine beim Präsidenten ansiedeln wird. Damit wird strukturell manifest, was schon in den Jahren vor dem Staatsstreich im Juli 2016 eingeübte Praxis wurde: Journalisten im Gefängnis, unliebsame Richter und Beamte ihrer Existenz beraubt, Ratschläge über die Anzahl der Kinder, die Türkinnen für Allah und Vaterland zu gebären hätten.
Die Türkei hat keine EU-Beitrittsperspektive mehr. In der NATO wird sie nicht wirklich heimisch bleiben wollen. Was die EU betrifft, so wird Brüssel die Reißleine ziehen müssen. Aus der NATO hinausgeworfen zu werden hingegen, ist nicht ganz leicht. Wahrscheinlicher ist, dass sich Erdoğan womöglich selbst aus dem Verteidigungsbündnis zurückziehen wird. Er hat kein Interesse mehr an Allianzen.
Die Stimmung wird frostig und die Türkei hat keine Alliierten. Ohne Einbettung in die Strukturen des Westens, die die moderne Türkei seit ihrer Gründung 1923 stets gesucht hat, ist das Land ankerlos. In den arabischen Ländern sind die Türken aufgrund der osmanischen Zwangsherrschaft nicht beliebt. Die Interessen Russlands und der Türkei im Nahen Osten könnten verschiedener nicht sein. Das Verhältnis der Erdoğan-AKP zu China ist mitunter sehr angespannt. Erdoğan braucht zur Konsolidierung seiner Herrschaft im Inneren möglichst viele äußere Feinde, um die Türken hinter sich, dem neuen Sultan, zu sammeln. Um gegen den äußeren Feind bestehen zu können, muss der Feind im Inneren ausgemerzt werden.
Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die EU und die Nato?
Nein, nicht automatisch. Denkbar ist zwar, dass das EU-Parlament mit einer Resolution den Abbruch der Gespräche fordert. Die zuständigen Regierungen der EU-Staaten müssen Forderungen des EU-Parlaments im Bereich der Außenpolitik allerdings nicht nachkommen.
Wenn sich alle 28 Mitgliedstaaten einig wären, wäre ein Abbruch möglich. Die EU-Kommission und auch die Bundesregierung waren bis zuletzt aber der Meinung, dass ein kompletter Wegfall der EU-Beitrittsperspektive dazu führen könnte, dass sich die Türkei noch stärker Russland zuwendet und keinerlei Bestrebungen mehr zeigt, sich bei Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an europäische Standards zu halten. Derzeit gibt es deswegen für die Beitrittsverhandlungen nur eine einziges K.o.-Kriterium: die von Erdogan erwogene Wiedereinführung der Todesstrafe.
Alternative zum vollständigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre es, die Gespräche offiziell auszusetzen. Dafür bräuchte es keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Es würde ausreichen, wenn 16 der insgesamt 28 Länder zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten.
Zumindest am Rande. Die Türkei ist immer noch einer der wichtigsten Partner in dem Bereich - auch wenn nach Meinung vieler Experten vor allem die Grenzschließungen auf der Balkanroute zu dem Ende des großen Flüchtlingszustroms in Richtung Westeuropa geführt hat. Die Türkei beherbergt derzeit rund drei Millionen Menschen aus Ländern wie Syrien oder dem Irak.
Die EU könnte die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei weiter zurückfahren oder verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen, die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken. Dabei geht es um rund 4,45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020.
In Brüssel wird das nicht für unmöglich gehalten. Die wüsten Beschimpfungen Erdogans gegen EU-Staaten könnten als unschönes Wahlkampfgepolter abgehakt werden. Wirklich bessere Beziehungen sind aber nur dann möglich, wenn die Türkei wieder anders mit Oppositionspolitikern und Journalisten umgeht. Das Vorgehen in den vergangenen Monaten wird als absolut inakzeptabel erachtet.
Die letzten Äußerungen waren widersprüchlich. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte Ende der vergangenen Woche an, er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu beleben. In der EU wird mit Spannung erwartet, ob dies bedeutet, dass die Türkei doch bereit ist, über eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken, die nach Meinung von EU-Juristen zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden können. Die EU hat eine Änderung der Anti-Terrorgesetze zu einer Bedingung für die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger gemacht.
Auf der anderen Seite sagte Präsident Erdogan, er wolle die künftigen Beziehungen der Türkei zu Europa nach dem Referendum überprüfen lassen. Unklar ist, ob er damit eine Volksabstimmung nach britischem Vorbild meint, bei der die Bürger der Türkei über eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit der EU abstimmen könnten.
Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt. Das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost hat von den Mitgliedstaaten die zweitgrößte Armee, von Incirlik aus fliegen Alliierte Angriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), und im Südosten des Landes steht ein wichtiges Nato-Raketenabwehrradar. Wenn das „Ja“ beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nutzen - aber nur dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Die jüngsten Entwicklungen wurden mit großer Sorge gesehen. Für Nato-Partner stellt sich die Frage, ob eine Demokratie à la Erdogan auf Dauer stabil sein kann.
An Benennung solcher Feinde hatte es keinen Mangel in der jüngeren Vergangenheit. Nach Jahren einer Entspannungspolitik sind die Kurden wieder Sündenböcke. Für die Behauptung, der Prediger und ehemalige Freund Erdoğans, Fetullah Gülen, stecke hinter dem Putschversuch vom vergangenen Sommer, hat die Regierung keine Beweise vorgelegt. Auch die Auslandsgemeinden hat Erdoğan aufgewiegelt. Seine Aussage, kein Europäer könne bald mehr frei auf die Straße gehen, war als markiger Aufruf zur Gewalt zu verstehen. Damit erhöht er den Druck auf die Auslandstürken, die durch diese Rhetorik in Deutschland, den Niederlanden und anderenorts nicht mehr als loyale Bürger wahrgenommen und in die Enge getrieben werden. Diese Ausgrenzung würde die Türken dann ihm, Erdoğan, zuführen. Das ist das rational des neuen Alleinherrschers.
Die Türkei steckt in einer Sackgasse, ein Blick auf die wirtschaftlichen Daten und den Stand der türkischen Lira sollte den letzten Zweifler überzeugen. Das sind alles andere als gute Nachrichten für die Nachbarn und ehemaligen Partner im Westen. Die Türkei steht mit dem Rücken zur Wand. Der künftig noch mächtigere Staatspräsident, der die Republik abgeschafft hat, wird in seiner Logik nicht umhinkommen, die rhetorischen und die echten Daumenschrauben weiter anzuziehen, um vom ökonomischen Verfall des Landes abzulenken. Wird Erdoğan die Türken in Europa aufrufen, in Straßenkämpfen Kurden und Christen hinzuschlachten? Wird die Türkei unter Erdoğan Teile Syriens annektieren? Oder Griechenland den Krieg erklären? In einem Einmann-Staat, muss nichts davon passieren, aber alles kann theoretisch passieren. Institutionelle Klugheit und administrative Sorgfalt, die in Demokratien abfedernd und vermittelnd wirken, sind in einem Führerstaat auf reine Ja-Sager-Funktionen reduziert.
Aber: Die Türkei ist kein Monolith, auch wenn Erdoğan das gerne so hätte. Knapp die Hälfte der Einwohner hat nicht für das neue Präsidialsystem gestimmt. Das Land ist gespalten und zerrissen wie viele Staaten dieser Tage. Anders aber als die ebenfalls in der Klemme steckenden USA und das Noch-Vereinigte-Königreich ist die Türkei bereits in einen Bürgerkrieg mit den Kurden involviert und mehr als ein Zaungast im nebenan grassierenden Bürgerkrieg in Syrien.
Die Wiedereinführung der Todesstrafe, die als Mittel der herrschenden Kaste von Erdoğan gegenüber ihren vermeintlichen oder wirklichen Gegnern sehr gelegen kommen könnte, wird das Ende der Beitrittsgespräche mit der EU markieren. Schon längst ist die Türkei kein Aspirant mehr für einen Platz am Tisch mit den demokratischen Völkern, auch wenn sowohl für die Verfassungsänderung als auch für die Todesstrafe abgestimmt werden wird beziehungsweise werden würde. Wenn mit Wahlen die Demokratie abgewählt wird, dann ist die Wahl keine demokratische Wahl mehr. Auf die Europäische Union kommen harte Zeiten zu. Sie wird in den kommenden Jahren zum Lieblingsfeind von Präsident Erdoğan werden.