Görlachs Gedanken

Die EU wird der Lieblingsfeind von Erdoğan

Fast die Hälfte der Türken war gegen die neue Präsidialverfassung. Doch nun wird sich der neue Sultan vom Westen entfernen. Ein EU-Beitritt ist Geschichte - die Europäer sind künftig der Lieblingsfeind Erdoğans.

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Merkel und Gabriel fordern "respektvollen Dialog" mit Opposition
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat sich besorgt darüber geäußert, dass hierzulande so viele Türken für die umstrittene Verfassungsreform gestimmt haben. „Wir - also die Parteien und Organisationen - müssen das Ergebnis genau analysieren und Wege finden, wie man diese Menschen besser erreicht, die in Deutschland in Freiheit leben, aber sich für die Menschen in der Türkei die Autokratie wünschen“, sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu der „Heilbronner Stimme“ und dem „Mannheimer Morgen“. Von den in Deutschland abgegeben Stimmen entfielen 63,1 Prozent auf das „Ja“. Damit gab es fast eine Zweidrittelmehrheit für das Präsidialsystem, das die Macht des Staatsoberhaupts künftig stark ausweitet. Quelle: dpa
Nach dem Verfassungsreferendum will die Bundesregierung so schnell wie möglich den Gesprächsfaden mit Ankara wieder aufnehmen. In einer ersten Reaktion erinnerten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel die türkische Regierung daran, dass sie als Mitglied des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und als EU-Beitrittskandidat Bedenken des Europarats gegen die neue Verfassung Rechnung tragen müsse. Gleichzeitig forderten sie Ankara dazu auf, der Spaltung der türkischen Gesellschaft entgegenzuwirken. „Der knappe Ausgang der Abstimmung zeigt, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist“, erklärten Merkel und Gabriel. „Die Bundesregierung erwartet, dass die türkische Regierung nun nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht.“ Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis „zur Kenntnis“, heißt es in der Erklärung. „Der abschließenden Einschätzung der OSZE-Wahlbeobachter soll nicht vorgegriffen werden. Die Bundesregierung misst dieser Bewertung besondere Bedeutung bei.“ Die Opposition in der Türkei hat angekündigt, das knappe Wahlergebnis anfechten zu wollen. Quelle: dpa
„Das Ergebnis zeigt, dass es in der Türkei ganz offenbar eine sehr lebendige politische Debatte, mit ganz unterschiedlichen Auffassungen gibt“, sagte Kanzleramtschef Peter Altmaier, CDU, im ARD-Brennpunkt. Quelle: dpa
In einer gemeinsamen Erklärung der EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini (r.), des EU-Kommissars für Nachbarschaftspolitik Johannes Hahn und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker (l.) hieß es: „Die Verfassungsänderungen und insbesondere ihre praktische Umsetzung sollten im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als EU-Beitrittskandidat und als Mitglied des Europarats begutachtet werden.“ Quelle: REUTERS
Der SPD-Chef und -Kanzlerkandidat Martin Schulz schrieb bei Twitter: „Der knappe Ausgang des Referendums zeigt: Erdogan ist nicht die Türkei. Einsatz für Demokratie und Menschenrechte muss weitergehen.“ Quelle: dpa
Sigmar Gabriel Quelle: AP

Das Ergebnis des Referendums in der Türkei ist eindeutig. Das Land wird den autoritären Kurs seines Staatspräsidenten mittragen. Die Türkei scheidet damit aus dem Reigen der demokratischen Nationen aus, da das Präsidialsystem von Recep Tayyip Erdoğan die Trennung der Gewalten nicht mehr kennt, sondern die volle Machtausübung alleine beim Präsidenten ansiedeln wird. Damit wird strukturell manifest, was schon in den Jahren vor dem Staatsstreich im Juli 2016 eingeübte Praxis wurde: Journalisten im Gefängnis, unliebsame Richter und Beamte ihrer Existenz beraubt, Ratschläge über die Anzahl der Kinder, die Türkinnen für Allah und Vaterland zu gebären hätten.

Die Türkei hat keine EU-Beitrittsperspektive mehr. In der NATO wird sie nicht wirklich heimisch bleiben wollen. Was die EU betrifft, so wird Brüssel die Reißleine ziehen müssen. Aus der NATO hinausgeworfen zu werden hingegen, ist nicht ganz leicht. Wahrscheinlicher ist, dass sich Erdoğan womöglich selbst aus dem Verteidigungsbündnis zurückziehen wird. Er hat kein Interesse mehr an Allianzen.

Die Stimmung wird frostig und die Türkei hat keine Alliierten. Ohne Einbettung in die Strukturen des Westens, die die moderne Türkei seit ihrer Gründung 1923 stets gesucht hat, ist das Land ankerlos. In den arabischen Ländern sind die Türken aufgrund der osmanischen Zwangsherrschaft nicht beliebt. Die Interessen Russlands und der Türkei im Nahen Osten könnten verschiedener nicht sein. Das Verhältnis der Erdoğan-AKP zu China ist mitunter sehr angespannt. Erdoğan braucht zur Konsolidierung seiner Herrschaft im Inneren möglichst viele äußere Feinde, um die Türken hinter sich, dem neuen Sultan, zu sammeln. Um gegen den äußeren Feind bestehen zu können, muss der Feind im Inneren ausgemerzt werden.

Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die EU und die Nato?

An Benennung solcher Feinde hatte es keinen Mangel in der jüngeren Vergangenheit. Nach Jahren einer Entspannungspolitik sind die Kurden wieder Sündenböcke. Für die Behauptung, der Prediger und ehemalige Freund Erdoğans, Fetullah Gülen, stecke hinter dem Putschversuch vom vergangenen Sommer, hat die Regierung keine Beweise vorgelegt. Auch die Auslandsgemeinden hat Erdoğan aufgewiegelt. Seine Aussage, kein Europäer könne bald mehr frei auf die Straße gehen, war als markiger Aufruf zur Gewalt zu verstehen. Damit erhöht er den Druck auf die Auslandstürken, die durch diese Rhetorik in Deutschland, den Niederlanden und anderenorts nicht mehr als loyale Bürger wahrgenommen und in die Enge getrieben werden. Diese Ausgrenzung würde die Türken dann ihm, Erdoğan, zuführen. Das ist das rational des neuen Alleinherrschers.

Die Türkei steckt in einer Sackgasse, ein Blick auf die wirtschaftlichen Daten und den Stand der türkischen Lira sollte den letzten Zweifler überzeugen. Das sind alles andere als gute Nachrichten für die Nachbarn und ehemaligen Partner im Westen. Die Türkei steht mit dem Rücken zur Wand. Der künftig noch mächtigere Staatspräsident, der die Republik abgeschafft hat, wird in seiner Logik nicht umhinkommen, die rhetorischen und die echten Daumenschrauben weiter anzuziehen, um vom ökonomischen Verfall des Landes abzulenken. Wird Erdoğan die Türken in Europa aufrufen, in Straßenkämpfen Kurden und Christen hinzuschlachten? Wird die Türkei unter Erdoğan Teile Syriens annektieren? Oder Griechenland den Krieg erklären? In einem Einmann-Staat, muss nichts davon passieren, aber alles kann theoretisch passieren. Institutionelle Klugheit und administrative Sorgfalt, die in Demokratien abfedernd und vermittelnd wirken, sind in einem Führerstaat auf reine Ja-Sager-Funktionen reduziert. 

Aber: Die Türkei ist kein Monolith, auch wenn Erdoğan das gerne so hätte. Knapp die Hälfte der Einwohner hat nicht für das neue Präsidialsystem gestimmt. Das Land ist gespalten und zerrissen wie viele Staaten dieser Tage. Anders aber als die ebenfalls in der Klemme steckenden USA und das Noch-Vereinigte-Königreich ist die Türkei bereits in einen Bürgerkrieg mit den Kurden involviert und mehr als ein Zaungast im nebenan grassierenden Bürgerkrieg in Syrien.

Die Wiedereinführung der Todesstrafe, die als Mittel der herrschenden Kaste von Erdoğan gegenüber ihren vermeintlichen oder wirklichen Gegnern sehr gelegen kommen könnte, wird das Ende der Beitrittsgespräche mit der EU markieren. Schon längst ist die Türkei kein Aspirant mehr für einen Platz am Tisch mit den demokratischen Völkern, auch wenn sowohl für die Verfassungsänderung als auch für die Todesstrafe abgestimmt werden wird beziehungsweise werden würde. Wenn mit Wahlen die Demokratie abgewählt wird, dann ist die Wahl keine demokratische Wahl mehr. Auf die Europäische Union kommen harte Zeiten zu. Sie wird in den kommenden Jahren zum Lieblingsfeind von Präsident Erdoğan werden. 

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