Alles in dem Konferenzraum wirkt modern und aufgeschlossen, an der Wand hängt eine Weltkarte aus grauem Stahl, die Skulptur in der Ecke zeigt die Innenansicht einer Festplatte. So residiert ein Fintech-Unternehmen, das im Internet die Banken attackiert, im Londoner Edelviertel Mayfair. Aber dessen Chef will nicht darüber reden, wie die Welt immer mehr zusammenrückt, er hat vielmehr Angst vor neuen Gräben, vor diesem Schlagwort, das er beinahe ängstlich ausspricht: „Brexit“. Der drohende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. „Viele meiner Freunde sind nun dafür“, sagt der promovierte Mathematiker, „dabei wäre das doch eine Katastrophe für uns.“
Die Erfahrung des erfolgreichen Unternehmers zeigt: Es ist längst hip geworden in Großbritannien, gegen Europa zu sein. Das ist die vielleicht beängstigendste Diagnose in der Woche, da der offizielle Countdown zum Referendum über den Verbleib des Landes in der EU begonnen hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Briten es am 23. Juni den Niederländern gleichtun, die in ihrem Ukraine-Referendum gerade mehrheitlich vor allem gegen Europa votierten, nimmt stetig zu. Laut neuen Umfragen liegt das Lager der EU-Gegner mit drei Prozentpunkten vorn – und die Zahl der Unentschlossenen ist noch immer sehr hoch.
Damit konkretisiert sich das Schreckgespenst eines Austritts, der ein Erdbeben für Großbritannien wäre, dessen Schockwellen aber ganz Europa erfassen würden. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU wäre auf einen Schlag nicht mehr dabei, die Briten könnten nicht länger als Korrektiv einer Union dienen, in der sich viele Mitgliedstaaten von der Marktwirtschaft abwenden.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Wie konnte es dazu kommen? Für den Fintech-Unternehmer hat die britische Politik versagt: „Sie hat bislang dem Bürger eine zentrale Frage nicht beantwortet: Welchen Nutzen ziehe ich eigentlich in Zukunft aus der EU-Mitgliedschaft?“ Dabei werden die Briten derzeit mit einer Flut von Argumenten, Statistiken und ökonomischen Analysen eingedeckt, die alle an ihre wirtschaftliche Vernunft appellieren. Aber die Europa-Gegner dringen direkter ins Herz der Bürger vor, etwa mit dem Verweis auf die drohende Schließung der Stahlhütten im walisischen Port Talbot.
Zwar war es die britische Regierung und nicht die EU, die Anti-Dumping-Zölle gegen chinesische Stahlimporte verhinderte und damit das Aus für heimischen Stahl in Kauf nahm. Doch das wissen die wenigsten Briten. Sie schimpfen, dass ihr Premier David Cameron die Branche nicht einfach retten konnte, ohne mit EU-Subventionsverboten in Konflikt zu geraten. „Globalisierung ist aufregend, wenn man oben schwimmt. Sie ist bedrohlicher, wenn Stahl deinen Lebensunterhalt ausmacht“, stichelte die konservative Kommentatorin Isabel Hardman.
Cameron, Vorkämpfer der Europa-Befürworter, wirkt zudem erheblich geschwächt, seit er nach tagelangem Lavieren einräumen musste, bis 2010 Anteile an einer Briefkastenfirma besessen zu haben. Die Affäre um die Panama Papers verstärkte bei vielen Briten einen Eindruck, den sie seit der Weltfinanzkrise hegen und in der sozial gespaltenen Metropole London täglich besichtigen können – dass die kleinen Leute für die Folgen der Krise bezahlen mussten, während die Reichen ihr Vermögen in Sicherheit brachten.
Zu dem Gefühl trug auch die Ankündigung von Finanzminister George Osborne bei, die Sozialhilfe für britische Behinderte zu kürzen, während Besserverdienern Steuererleichterungen in Aussicht gestellt wurden. Osborne, wie Cameron Spross einer privilegierten Familie, ruderte zwar angesichts der Proteste zurück. Doch das Problem bleibt: Es sind überwiegend die unpopulären Eliten, die den Verbleib in der Union propagieren.