2017 wird als Jahr einer fundamentalen Veränderung in die französische und damit wohl auch europäische Geschichte eingehen. Das kann man jetzt, eine Woche nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und eine Woche vor der zweiten Runde, schon sagen.
Fast überall in Europa wälzen sich die parteipolitischen Verhältnisse um. Aber in Frankreich, das seit etwa 300 Jahren stets Pionier der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Europa ist, vollzieht sich dieser Prozess auch heute wieder zuerst und in besonders drastischer, geradezu revolutionärer Deutlichkeit. Dort ist das Ancien Régime der etablierten Parteien der V. Republik am vergangenen Sonntag zusammengebrochen. Die Kandidaten der gemäßigten Linken, Benoît Hamon, und der gemäßigten Rechten, François Fillon, schafften es beide nicht in die Stichwahlen. Die sozialistische Partei ist mit rund sieben Prozent am Boden zerstört. Möglicherweise wird sie sich bald ganz von der politischen Bühne verabschieden. Einige bekannte Köpfe sind schon zum siegreichen Emmanuel Macron und seiner Bewegung „En Marche!“ übergelaufen. Bei den sich auf de Gaulle zurückführenden gemäßigt rechten „Republicains“ sieht es nur wenig besser aus. Wie Hamon empfahl Fillon, nun im zweiten Wahlgang Macron zu wählen. Der wird dadurch zum Sachwalter der bisherigen etablierten Parteien erklärt.
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Der wahrscheinliche Präsident Macron kann sich mit seinen noch nicht mal vierzig Lebensjahren als unverbrauchter großer Erneuerer inszenieren, ist aber andererseits mit ENA-Abschluss, als früherer Investmentbanker und Wirtschaftsminister die personifizierte Funktionselite. Er ist die ideale Besetzung, um mehr oder weniger alles hinter sich zu scharen und zu revitalisieren, was von den alten, als korrupt und verlebt empfundenen Parteien übrig ist.
Die Erleichterung in fast allen westlichen Demokratien über Macrons Sieg in der ersten Runde zeigt, wie groß die Nervosität ist. Die französischen Präsidentschaftswahlen werden wie die anderen großen Wahlen und Referenden des vergangenen und aktuellen Jahres, zuletzt in den Niederlanden, als Zitterpartie wahrgenommen: Stets steht die gesamte politische Klasse Europas und deren Grundkonsens in der Defensive gegen Fundamentalkritik, vertont durch die sogenannten Populisten. Und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass das in absehbarer Zukunft anders sein wird. Der parteipolitische Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand.
Bei all der öffentlichen Unterstützung, die Macron aus Berlin zuteil wird, geht völlig unter, was seine Präsidentschaft für Deutschland bedeuten würde. Nämlich nicht viel Gutes. Dass dessen europapolitische Vorstellungen zu Lasten der deutschen Steuerzahler gehen, weil er ein echtes EU-Budget und die Sozialisierung der Staatsschulden inklusive Euro-Bonds will, scheint völlig egal zu sein. Hauptsache er ist pro-EU und lobt Merkel - und vor allem ist er gegen Le Pen.
Die etablierten politischen Kräfte, ob in Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Frankreich, haben das Wachstum der populistischen Herausforderer und damit die Fundamentalisierung von Wahlen auch selbst mit zu verantworten. Seit den 1990er Jahren haben sie ihre früheren programmatischen Gegensätze zu Gunsten eines marktbejahenden (Kritiker würden sagen „neoliberalen“), globalisierungs- und europäisierungsfreudigen Konsenses entsorgt. In den christdemokratischen, beziehungsweise gaullistischen Parteien wurden konservative Skeptiker dieses Fortschrittskonsenses ebenso marginalisiert wie die marxistisch geprägten Antikapitalisten in den sozialdemokratischen. Das Ergebnis ist eine selbsterklärte Alternativlosigkeit einer Parteien-Technokratie, die Colin Crouch als „Postdemokratie“ kritisiert.
Wirtschaftspolitische Pläne von Marine Le Pen
Er soll zugunsten einer eigenen Währung aufgeben werden - sofern sich die Mehrheit der Franzosen in einem Referendum für einen Abschied vom Euro aussprechen.
Nach einem Wahlsieg soll mit den EU-Partnern binnen sechs Monaten eine radikale Änderung der EU-Verträge vereinbart werden. Die Union soll dabei in einen lose Verbund der Mitgliedsländer umgebaut werden - ohne Euro und von Brüssel überwachte Haushaltsregeln, aber wieder mit Grenzkontrollen. Schon in den ersten beiden Monaten nach einem Wahlsieg soll das Schengen-Abkommen aufgekündigt werden, mit dem Kontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft wurden.
Sie soll bei der Rückkehr zur Landeswährung helfen und deren Kurs verteidigen. Ihr soll dabei das Recht eingeräumt werden, französische Staatsanleihen von der Regierung abzukaufen.
Bei öffentlichen Ausschreibungen sollen nur französische Unternehmen zum Zuge kommen, solange der Preisunterschied nicht allzu groß ist. Auf Importe soll eine Steuer in Höhe von drei Prozent erhoben werden. Arbeitgeber, die ausländische Mitarbeiter einstellen, sollen mit einer Extrasteuer belegt werden, die zehn Prozent des Gehaltes erreichen kann.
Das Renteneintrittsalter soll von 62 auf 60 Jahre gesenkt werden. Sehr arme Rentner sollen besser unterstützt werden.
Die 35-Stunden-Woche soll erhalten werden. Überstunden sollen steuerfrei werden.
Diese sollen für Privathaushalte gesenkt, die Sozialausgaben erhöht werden. Auch kleinere und mittelständische Firmen sollen weniger Steuern zahlen.
Die bisherigen Wähler beider Parteifamilien, die deren konsensualen Kurs als Bedrohung ihrer materiellen und kulturellen Sicherheit empfinden, werden damit politisch heimatlos - und empfänglich für neue politische Alternativen. In Frankreich, wo die Arbeiterschaft und die Landbevölkerung mittlerweile in weiten Teilen zum Front National übergelaufen sind, ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Mit über 21 Prozent der Wählerstimmen ist der FN nicht mehr als Randphänomen marginalisierbar. Zählt man die Wähler des linksextremen Jean-Luc Mélenchon dazu, der nur in seiner Einwanderungsfreundlichkeit wesentlich von Le Pen abweicht, wird deutlich: Rund 40 Prozent der französischen Wähler stehen gegen den Konsens der Eliten. Da offenbart sich, dass aus einer gesellschaftlichen Konfliktlinie eine neue politische Konstellation geworden ist, in der die alten Kontrahenten gemeinsam auf der einen Seite stehen, und eine neue Opposition ihnen entgegensteht. Ob es dem stärkeren Teil der neuen Opposition, dem Front National, gelingt, den schwächeren Teil, die Mélenchon-Anhänger, zum Partner zu gewinnen, wird eine entscheidende Frage für deren künftige Regierungsfähigkeit sein.