WirtschaftsWoche Online: Frau Löhken, die Europäische Zentralbank hält an ihrem expansiven Kurs fest. Wie lange kann sie das durchhalten? Stößt die Geldpolitik an Grenzen?
Frau Katrin Löhken: Das ist eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der EZB ist der Instrumentenkasten bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Jedoch lässt der Erfolg der bisherigen sehr umfangreichen Maßnahmen länger auf sich warten als gedacht. Da die Maßnahmen aber prinzipiell wirken, lohnt nach Ansicht der Zentralbank ein Durchhalten und damit ein Festhalten am sehr expansiven Kurs.
Wie sieht der andere Blick auf das Problem aus?
Tatsächlich stößt die Geldpolitik an ihre Grenzen, weil die Niedrigzinspolitik unerwünschte Nebenwirkungen im Finanzsektor nach sich zieht, die nicht außer Acht gelassen werden können. Auch die Entscheidung der Zentralbank von Japan, die quantitativen Ziele aufzugeben und auf eine Steuerung der zehnjährigen Zinsniveaus umzuschwenken, deutet darauf hin, dass der Atem der Notenbanken nicht endlos ist.
Wie lange kann der Finanzsektor die niedrigen Zinsen noch aushalten?
Das lässt sich nicht quantifizieren. Einige Banken und Versicherungen haben mit großen Problemen zu kämpfen.
Geldpolitiker rechtfertigen Anleihekäufe und Niedrigzinsen mit zu niedriger Inflation. Was die offizielle Inflationsrate aber verschweigt, sind die massiven Preissteigerungen bei Immobilien und Aktien. Sollte die Geldpolitik der Blasengefahr in diesen Anlageklassen nicht mehr Beachtung schenken?
Das Research zu diesen Assetklassen läuft – auch in den Notenbanken. Harte Ergebnisse, auf denen eine Geldpolitik aufgesetzt werden kann, fehlen aber noch. Wenn wir von Blasen sprechen, sollte uns klar sein: Es ist erklärtes Ziel der quantitativen Lockerung – etwa des Kaufs von Unternehmensanleihen – in einzelnen Vermögensklassen Risikoprämien zu senken und Preissteigerungen zuzulassen.
Warum war heute keine Abkehr von den Anleihekäufen zu erkennen?
Aus Sicht der EZB gibt es keinen Grund, damit aufzuhören. Die Inflation in der Eurozone von 0,4 Prozent liegt noch deutlich unter dem angestrebten Inflationsziel von zwei Prozent. Vielmehr rechnen wir damit, dass die EZB auf ihrer Dezember-Sitzung, wenn auch die neuen Projektionen vorliegen, das Ankaufprogramm verlängert.
Geldpolitik der EZB: Belastungen durch Niedrigzinsen
In Deutschland beliebte Sparformen wie Tages- und Festgeld werfen kaum noch etwas ab. Die niedrige Inflation gleiche die negativen Effekte der niedrigen Zinsen allerdings aus, betont EZB-Präsident Mario Draghi. Derzeit liege die Verzinsung minus Inflation höher als im Durchschnitt der 1990er Jahre. „Zu der Zeit hatten Sie höhere Zinsen auf dem Sparbuch, aber zugleich meist Inflation, die weit darüber lag und alles auffraß“, sagte Draghi jüngst in einem Interview. Im Mai lagen die Verbraucherpreise in Deutschland nach vorläufigen Berechnungen gerade einmal um 0,1 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Stand: 07.06.2016
Finanzinstitute müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Für den durchschnittlichen Privatkunden sind Strafzinsen bislang kein Thema. Man werde „alles tun, um die privaten Sparer vor Negativzinsen zu schützen - in Teilen auch zu Lasten der eigenen Ertragslage“, sagte jüngst der Chef des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Georg Fahrenschon. Wenn die aktuelle Niedrigzinsphase aber lange andauere, würden die Sparkassen die Kunden letztlich nicht davor bewahren können. Zudem könnten Geldhäuser nach Angaben des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Uwe Fröhlich, gezwungen sein, an der Gebührenschraube zu drehen: „Jeder muss in seiner Bank überlegen, wie er über Konditionen-Gestaltung gegen die Ertragsverluste anarbeitet, die ohne Zweifel da sind.“
Lebensversicherern fällt es immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. Die Folge: Die Verzinsung des Altersvorsorge-Klassikers sinkt seit geraumer Zeit. Auch Betriebsrenten leiden, Firmen müssen wegen der Zinsschmelze immer mehr Geld für die Pensionsverbindlichkeiten zurücklegen. Viele Unternehmen versprechen bei Neueinstellungen daher keine konkreten Leistungen mehr, sondern sagen lediglich zu, einen bestimmten Betrag pro Monat in Vorsorgekassen einzuzahlen. Das Zinsrisiko tragen die künftigen Pensionäre.
Was lässt sich bei den Äußerungen der Notenbanker zwischen den Zeilen herauslesen?
Der Tenor der EZB hat sich in den letzten Reden verschoben. Sie betont mehr und mehr, dass die Geldpolitik es allein nicht richten kann. Auf jeder Pressekonferenz und in jedem Statement der Zentralbank wird auf die Notwendigkeit von strukturellen Reformen und einer wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung hingewiesen. Neu sind aber unserer Meinung nach die vehementeren Rufe der EZB nach einer stärkeren Beteiligung der Fiskal- und vor allem Strukturpolitik an der wirtschaftlichen Erholung in der Eurozone. Solange von dieser Seite zu wenig passiert, ist das Zusammenspiel zwischen Geldpolitik und Fiskal- und Strukturpolitik in der Eurozone jedoch kein stabiles Gleichgewicht, sondern eher eine Schieflage.
Sind schon Erfolge von strukturellen Reformen zu erkennen?
Da Wahlen bevorstehen, zeichnet sich vorerst kein Richtungswechsel ab. In Italien muss der Ministerpräsident am 4. Dezember ein Referendum über eine Verfassungsreform überstehen, das indirekt mit seinem Amt verknüpft ist. In Frankreich steckt der Präsident knapp neun Monate vor den Wahlen in einem Popularitätstief. Unpopuläre Strukturreformen stehen daher insbesondere in Italien und Frankreich nicht auf der Agenda. Insofern befürchten wir, dass alles beim Alten bleibt: Die Geldpolitik liefert und setzt sich der Überforderung aus, während die Staaten die notwendigen strukturellen Reformen nicht angehen mit der Folge einer langen Phase niedrigen Wachstums.
Ein Rückzug aus der expansiven Geldpolitik müsste behutsam erfolgen, um die Märkte nicht zu verschrecken. Wie könnte eine sinnvolle Exitstrategie aussehen?
Wir erwarten, dass die EZB zunächst das Ankaufprogramm mit einem monatlichen Volumen von 80 Milliarden Euro verlängert. Ab kommendem Jahr werden die Inflationsraten optisch aber wieder hübscher aussehen, dank des Ölpreiseffekts bekommen wir wieder eine Eins vor dem Komma. Dies kann die EZB zum Anlass nehmen, im Laufe des Jahres eine allmähliche Reduktion ihrer Ankäufe zu verkünden. Mit einer Anhebung der Leitzinsen rechnen wir aber vor Ende 2018 nicht.