Wirtschaft im Weitwinkel

Haben sich die Löhne von der Konjunktur abgekoppelt?

Alle Ampeln stehen auf Grün. Die Konjunktur in der Eurozone gewinnt immer mehr an Fahrt. Eigentlich müssten nun auch die Löhne und Gehälter in der Eurozone deutlich ansteigen. Doch das passiert nicht.

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Bauarbeiter auf einer Baustelle Quelle: dpa

Anlässlich seiner Jahrestagung in Washington hat der IWF dieser Tage seinen neuen Weltwirtschaftsausblick vorgestellt. Die Wachstumsperspektiven haben sich für viele Länder in den vergangenen Monaten sehr positiv entwickelt, so dass der IWF seine Prognosen unter anderem für den Euro-Raum deutlich nach oben revidiert hat. Das sind zweifellos positive Nachrichten. Trotz der guten Konjunktur bleibt die Inflation jedoch in den meisten Industrieländern sehr niedrig.

Das wird vor allem im Hinblick auf die Geldpolitik kritisch gesehen. Niedrige Inflationsraten machen es für die Notenbanken schwierig, ihre Geldpolitik zu normalisieren und die Zinsen wieder anzuheben. So kann, trotz der günstigen Konjunkturentwicklung, kein Puffer bei den Notenbankzinsen aufgebaut werden. Wenn die Zeiten dann irgendwann wirtschaftlich wieder schlechter werden, hat die Geldpolitik kaum Spielraum, mit Zinssenkungen zu reagieren. Vor allem aus diesem Grund ist der anhaltend niedrige Preisauftrieb nahezu weltweit ein Thema, das die Volkswirte umtreibt wie kaum ein anderes.

Ein wichtiger Faktor für die niedrigen Inflationsraten ist die trotz einer deutlichen Aufhellung am Arbeitsmarkt ausbleibende Beschleunigung beim Anstieg der Löhne. Diese Entwicklung stellt den zentralen Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktlage, Wachstumsdynamik und Inflationsentwicklung in Frage, der den Marktexperten unter dem Schlagwort "Phillips-Kurve" bekannt ist.

In die europäischen Arbeitsmärkte ist in den letzten Jahren durchaus Bewegung gekommen - allerdings ohne große Auswirkungen bei den Löhnen. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote im Euro-Raum lag zuletzt bei 9,1 Prozent, vor einem Jahr notierte sie noch bei 9,9 Prozent. Im August 2017 waren zwar noch immer 14,75 Millionen Personen arbeitslos gemeldet, im Jahresvergleich ist die Zahl der Arbeitslosen jedoch um mehr als 1,3 Millionen gesunken.

Die zunehmend robuste Konjunkturentwicklung hat sicher maßgeblichen Anteil am Rückgang der Arbeitslosigkeit im Euro-Raum. Zwischenzeitlich waren schon Bedenken am Zusammenhang zwischen gesamtwirtschaftlicher Entwicklung und Beschäftigungsaufbau aufgekommen. Seit der Gründung der Europäischen Währungsunion im Jahr 1999 bis zum Ausbruch der großen Finanzmarktkrise Ende des Jahres 2008 bestand ein vergleichsweise enger Gleichlauf. Dieser schwächte sich während der Finanzkrise ab. Arbeitsplatzerhaltende Maßnahmen wie die Kurzarbeit dämmten die Beschäftigungsreaktion während und nach der Krise ein.

Seit Ende 2011 hat die Reaktion der Beschäftigung auf das Wirtschaftswachstum wieder an Kraft gewonnen. Eine Ausweitung der Teilzeitarbeit, aber auch die zum Teil umfangreichen Reformbemühungen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts dürften dazu beigetragen haben. Der Blick auf die Einzelländer des Währungsgebiets zeigt aber, dass die Arbeitslosenquoten teilweise noch immer sehr hoch sind und die Beschäftigung noch immer hinter dem Vorkrisenniveau zurückbleibt. Sofern sich der wirtschaftliche Aufschwung weiter fortsetzt, und darauf deuten die Indikatoren hin, wird sich auch der Abbau der Arbeitslosigkeit weiter fortsetzen.

Für die Geldpolitik ist es aufgrund der üblicherweise langen Wirkungsverzögerungen ihrer Maßnahmen wichtig, verlässliche Indikatoren für die künftige Inflationsentwicklung zu haben. Der IWF befasst sich in einem gesonderten Kapitel des Wirtschaftsausblicks mit den Gründen für das unverändert verhaltene Lohnwachstum. Dabei werden Arbeitsproduktivität, historische Inflation und die Unterauslastung am Arbeitsmarkt als entscheidende Größen für die Lohnentwicklung identifiziert.

Als Maß für die Auslastung am Arbeitsmarkt ist die Arbeitslosenquote ein grundsätzlich angemessener Indikator. Aber gerade in den letzten Jahren konnte die Arbeitslosenquote die Arbeitsmarktentwicklung jedoch nicht vollständig wiedergeben. Auffällig ist dies vor allem in Ländern, deren Arbeitslosenquote wieder auf das Niveau vor der Finanzmarktkrise oder sogar darunter gesunken ist, ohne dass es hier zu einer entsprechenden Beschleunigung des Lohnanstiegs gekommen ist. Als zusätzlichen Indikator schlägt hier der IWF daher die unfreiwillige Teilzeitarbeit vor. Der Anteil der unfreiwilligen Teilzeitarbeit liegt in vielen Industrieländern tatsächlich höher als vor der Finanzmarktkrise (2007) und drückt auf das Lohnwachstum.

Insbesondere für Großbritannien und die USA zeigt die unfreiwillige Teilzeitarbeit, dass die Aufhellung am Arbeitsmarkt noch nicht so weit gediehen ist, wie es die allgemeine Arbeitslosenquote signalisiert. Für die Geldpolitik bedeutet die Untersuchung eine gewisse Entwarnung, da der grundsätzliche Zusammenhang zwischen der Lage am Arbeitsmarkt und der Lohnentwicklung und in der Folge auch der Inflation bestehen bleibt.

Das Lohnwachstum wurde in den letzten Jahren jedoch nicht nur durch die Lage am Arbeitsmarkt gedrückt. Gerade bei den Ländern, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ihre Arbeitslosenquote wieder unter das Niveau von vor der Finanzmarktkrise zu drücken, war ein nachlassendes Produktivitätswachstum der entscheidende Faktor für die schwache Lohnentwicklung. Diese Befunde des IWF erklären auch, warum Geldpolitiker rund um den Globus derzeit in ihren Stellungnahmen zur Geduld mahnen.

Die Aufhellung am Arbeitsmarkt muss offenbar noch etwas länger fortschreiten, um lohn- und preistreibend zu wirken. Zum anderen werden aber auch Reformmaßnahmen gefordert, mit denen das Produktivitätswachstum angeregt werden soll. Alles das sollte in den kommenden zwei bis drei Jahren für eine etwas anziehende Inflationsrate in den Industrieländern sorgen. Angst vor schnellen Lohnsteigerungen oder gar einer Lohn-Preis-Spirale muss man jedoch vorerst nicht haben.

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