Als die US-Investmentbank Morgan Stanley vor Kurzem ihre Aktientipps rund ums selbstfahrende Auto zusammenstellte, war zum Erstaunen der Investoren lediglich ein einziger Fahrzeugbauer darunter: Tesla.
30 Unternehmen haben die Analysten aufgelistet – nach Ansicht der Banker aussichtsreiche Investments für alle, die vom Boom des Robo-Autos profitieren wollen. Die US-Sports-Bar-Kette Buffalo Wild Wings ist ebenso dabei wie der weltweit größte Weinproduzent Constellation Brands: Die Umsätze beider Unternehmen – so das Kalkül – werden steigen, sobald Autofahrer keine Alkoholkontrollen mehr fürchten müssen. Selbst der Pizzalieferdienst Domino’s regt die Fantasie der Analysten an: Fallen die Personalkosten der Mofafahrer weg, steigen die Profite. Im US-Bundesstaat Michigan testet Domino’s zusammen mit Ford bereits die Lieferung per selbstfahrendem Auto.
Die Anlageempfehlung von Morgan Stanley lässt sich als eine Wette auf die Stadt der Zukunft verstehen. Eine Stadt, in der Autos autonom fahren – und das wirtschaftliche und gesellschaftliche Miteinander auf den Kopf stellen. Eine Stadt, in der keine Politesse und auch kaum Taxifahrer mehr zu sehen sein werden. Eine Stadt mit mehr Spielplätzen und Straßencafés statt gnadenlos zugeparkter Straßenränder.
Wie das selbstfahrende Auto die Wirtschaft jenseits der Fahrzeugbauer verändert
... verbringen zwei von drei deutschen Autofahrern pro Tag in ihrem Wagen. Viel Zeit, um im Internet zu surfen, wenn sie nicht mehr auf den Verkehr achten müssen. Für Boutiquen und Museen, Kinos und Fitnessstudios bedeutet dies: Sie müssen auch online präsent sein, weil sie kaum noch einer zufällig entdeckt, während er aus dem Fenster blickt.
... zusätzlichen Umsatz im Jahr könnte das selbstfahrende Auto Bars, Discos und Kneipen weltweit bringen. Denn Alkohol und Autofahren schließen sich nicht mehr aus. Derzeit trinken die Menschen weltweit Alkohol im Wert von 1,5 Billionen Dollar.
... haben deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr für Geschäftsreisen ausgegeben. In Zukunft lässt sich das selbstfahrende Auto als rollendes Bett nutzen. Man fährt abends los und ist am nächsten Morgen am Ziel. Hotels könnten dann allenfalls noch mit einem Angebot zur Morgentoilette punkten.
... des Münchner Stadtgebiets sind durch parkende Autos blockiert. Selbstfahrende Autos werden den Passagier am Ziel absetzen, zum nächsten Einsatz fahren – und so den Verkehr besser steuern. Parkplätze werden also kaum noch gebraucht. Schlecht für die Betreiber von Parkhäusern, die heute in Westeuropa jährlich 50 Milliarden Euro umsetzen.
... Verkehrsschilder und 1,5 Millionen Ampeln gibt es in Deutschland. Die verschwinden. Selbstfahrende Autos fahren auch bei hohem Tempo Stoßstange an Stoßstange, kreuzen und biegen ab – ohne zu stoppen. Selbst den Weg kennen sie.
... nimmt allein Hamburg jedes Jahr mit Knöllchen ein. Selbstfahrende Autos achten aufs Tempolimit und parken nur dort, wo sie auch parken dürfen. Städten gehen also Einnahmen verloren.
... unserer Lebensmittel werden wir in 30 Jahren geliefert bekommen – unabhängig von den Großbritannien und Japan sind die sich selbst steuernden Essenslieferanten testweise schon unterwegs.
... aller Versuche in Deutschland, ein Paket zuzustellen, sind vergeblich. Selbstfahrende Paketautos liefern eine Sendung, wenn der Empfänger sie zu sich ruft – auch nachts und am Wochenende.
... ihres US-Umsatzes macht die Fast-Food-Kette McDonald’s schon heute am Drive-in-Schalter. Im selbstfahrenden Auto können alle Passagiere essen – und nicht nur die auf der Rückbank. Und die Wagen können Fritten und Burger auch ganz allein am Drive-in-Schalter abholen und ausliefern.
Disruption ist nur ein Schlagwort, sicher. Aber was sich mit selbstfahrenden Autos anbahnt, ist tatsächlich eine Revolution unserer Denk- und Lebensweisen, wie sie in den vergangenen zehn Jahren mit dem Smartphone in die Welt gekommen ist. So wie der Plattformkapitalismus neue Angebote geschaffen und bestehende Branchen umgepflügt hat, so wird auch das selbstfahrende Auto Veränderungen in Gang setzen, die nicht nur die Autobauer betreffen – und von denen wir bislang nur eine vage Vorstellung haben. „Politiker sollten deshalb beim Thema autonomes Fahren weniger an die Autoindustrie, sondern in ganzen Systemen denken. Für Deutschland bestehen da große Chancen“, sagt etwa Steffen Braun, Leiter Mobilität und Stadtsysteme beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation.
Bildschirm statt Lenkrad
Die Vorboten der neuen Realität sind unverkennbar. Hersteller wie BMW erwarten, dass schon Mitte des nächsten Jahrzehnts Wagen ohne Fahrer über deutsche Straßen rollen. Und wenn sich die Branche in diesen Tagen zur Automobilausstellung in Frankfurt trifft, wird es nicht nur um Hubraum, Windschnittigkeit und Antriebstechnologien gehen, sondern auch um neue Dienste im Auto der Zukunft. Daimler lädt mit den Machern des South-by-Southwest-Festivals, eines der wichtigsten Treffen der globalen Digitalbranche, sogar zu einer eigenen Technologiekonferenz ein.
Der Konzern präsentiert in Frankfurt etwa das Modell eines neuen Smart-Zweisitzers. Statt eines Lenkrads besitzt er einen 24-Zoll-Bildschirm. Darauf kann sich der Fahrer in Zukunft die Fernsehnachrichten oder auch einen Film ansehen, während der Computer die Steuerung übernimmt: Aus gutem Grund zählen die Analysten von Morgan Stanley den Unterhaltungskonzern Disney zu den Unternehmen, deren Kurs mit dem selbstfahrenden Auto steigen dürfte. „Datenbasierte Anwendungen wie das Unterhaltungsprogramm oder andere neuartige Dienstleistungen im Auto haben ein Marktpotenzial von 200 Milliarden Dollar pro Jahr“, sagt Timo Möller, Leiter des McKinsey Center for Future Mobility.
Das Auto-Cockpit als Verlängerung des Wohnzimmers in den Berufsverkehr? Auch Verlage, denen die Leser weglaufen, könnten ihre Nachrichten in Zukunft dort präsentieren, wo einst das Lenkrad war. Und schließlich schielt die Werbeindustrie auf die Fahrgastzelle, um auf Angebote an der nächsten Straßenecke aufmerksam zu machen – mit Gutscheinen etwa für das Café, das kurz vor Ladenschluss noch letzte Sandwiches an die Kundschaft bringen will.