Paarungsverhalten Die Liebe in Zeiten der Digitalisierung

Wie der Rest des Lebens wird auch die Liebe digitalisiert. Doch wie steht es um die Qualität des Bildschirmdatings? Über die merkwürdigen Balzrituale geschlechtsreifer Menschen.

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Warum digitale Liebe zur Sucht wird. Quelle: Getty Images

Natürlich geht es um Sex. Aber nicht nur. Zumindest bei Maria Dannenberg. Die 27-jährige Projektmanagerin nutzt seit einigen Monaten die Dating-Plattform Tinder, um neue Männer kennenzulernen: „Das ist zwar alles ein wenig oberflächlich, aber sehr effizient.“ „Hot“ oder „Not“ heißt auf dieser Balz-App die Devise: Hier werben Tinderella und Tinderprinz mit Profilfotos für sich, um in einem „Wisch“ über den Touchscreen zum „Match“ zusammenzufinden – und um sich dann leibhaftig zu treffen, für was auch immer. Von Scham oder Peinlichkeit keine Spur. Der klassische Flirt? Old School. Romantik? Zweitrangig. Zwangloser Sex? Kein Problem. Liebe? Im Idealfall. Reue? Quatsch. 42 Prozent der Tinder-Nutzer leben in einer festen Beziehung? Privatsache. „Es war nie leichter als heute, neue Menschen zu treffen“, freut sich Dannenberg, und: „Im wirklichen Freundeskreis ist definitiv weniger los.“

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Auf die Plätze, fertig, Sex – digitales Dating hat unser Paarungsverhalten auf den Kopf gestellt. Ob Tinder, Lovoo oder Badoo – Dating-Apps haben weltweit mehr als 200 Millionen Mitglieder. Mit Grindr, einem Portal für Homosexuelle, fing es vor bald zehn Jahren an; heute balzen neben Tinder auch ElitePartner, Parship oder eDarling um Kunden mit Partnerschafts- und Sexinteressen. Bei Tinder wird nach eigenen Angaben jeden Tag bis zu 1,4 Milliarden Mal über das Display gewischt – mit 26 Millionen Treffern. 37 Prozent aller Deutschen waren schon bei einem oder mehreren Dating-Portalen angemeldet. 72 Prozent der Nutzer sagen, dass sich ihr Dating-Verhalten dadurch verändert hätte.

Die charmante Verklemmtheit, mit der errötende Damen und Herren einst beim Tanz-Café zum Tischtelefon griffen? Passé. Das Freie-Liebe-Dogma der Flower-Power-Generation, die Nacktheit noch als politisches Statement verstand? Kalter Kaffee. Guter Sex ist heute das, worauf man Anspruch hat, und der ideale Partner lässt sich bestellen (und konfigurieren) wie ein Neuwagen: Über Vorlieben, Aussehen, Brust- und Penisgrößen wird im Netz so schamlos gesprochen wie über die Vorzüge von Motorsägen und Kajal-Stiften. Und die Versuchung wächst. Allein bei Tinder melden sich angeblich täglich 8000 neue Nutzer an, um ihre Sehnsüchte vermessen, ihre Begierden algorithmisch kommerzialisieren zu lassen.

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„Wir lieben heute dort, wo wir am meisten Rendite bekommen – in Form von Anerkennung, von Matches und Likes“, sagt Patrick Wengenroth, Autor und Regisseur des Theaterstücks Love hurts in Tinder Times, das zurzeit in der Berliner Schaubühne gegeben wird. Er will zeigen, dass Liebe ein „riesengroßer Müllberg“ ist, dass Liebe, aufgerieben zwischen Egoismus und bedingungsloser Hingabe, zwischen dem Bekenntnis zur Monogamie und dem Willen zur Promiskuität, nur schmerzen kann. Wengenroth geht es darum, die Liebe von ihrer kommerziellen Vermarktung zu befreien: „Heute glauben viele, dass es auch mit der Liebe immer nur aufwärtsgehen kann, dass Liebe immer nur wachsen kann. Ein Irrtum! Wirkliche Liebe findet nur über Respekt, Behutsamkeit und Benehmen statt – jenseits von Konsum und Nutzwert.“

Doch ist die romantische Liebe, befreit von ihrer mathematischen Verwertung, wirklich schmerzfreier? In der Antike begegnet sie uns in der Figur des Amor, Sohn der Venus (Göttin der Liebe) und des Mars (Gott des Krieges). Amors Pfeile sind getränkt mit Lieblichkeit und Streit, mit Harmonie und Missverständnissen. Warum? Weil Liebe „meistens an Bedingungen geknüpft“ ist, so Wengenroth. Dabei sei sie in Wirklichkeit nur dann besonders wertvoll, wenn sie bedingungslos ist: „Wenn man jemanden wirklich liebt, erwartet man für seine Hingabe keine Gegenleistung.“

Wer tindert, will sich belohnen

Nimmt man Wengenroth beim Wort, ist das Geheimnis der Liebe online abgeschaltet: Wer tindert, erwartet eine Gegenleistung. Und will sich belohnen. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Anerkennung mit guten Gefühlen zu honorieren. Dass wir bei einem positiven Feedback auf Dating-Portalen den Botenstoff Dopamin ausschütten, der unseren Wunsch nach Wiederholung der Anerkennung stärkt, ist der biochemische Prozess, der hinter dem Erfolg des Onlinedatings steht. „Das Dating hat mich fast süchtig gemacht“, sagt Lilo Stein, unverheiratet, kinderlos. Die 41-jährige Unternehmensberaterin aus Berlin hat sich vor einem Jahr auf der Kuppel-App ok-cupid angemeldet und Männer gedatet. Dabei kamen „einige Bettgeschichten heraus“, obwohl das „nicht unbedingt die Absicht“ gewesen sei: „Ich fühlte mich einfach geschmeichelt. Ich wollte nach einer verunglückten Liebe meinen Marktwert testen“, erzählt Stein.

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Nicht nur die Zielstrebigkeit, mit der Männer Sex wollten, hat sie überrascht, sondern auch, wie „unglaublich effizient“ digitales Dating funktioniert. Bei Offlinepartys sei die Trefferquote eindeutig kleiner – und nicht jeder habe Flirtchancen. Im „demokratischen“ Onlinedating dagegen kann jeder mitmachen und sich zum Subjekt seiner Begierde machen, Komplimente verteilen und erhalten und sich kurzfristig glücklich fühlen. Dopamin sei Dank. Doch die Liebe?

Sie kann durchaus aus dem geschäftsmäßigen Dating erwachsen. „Viele Singles haben das Gefühl, dass sich eine ganz besondere Person direkt hinter dem Bildschirm versteckt und dass sie irgendwann mit ihr in Kontakt kommen werden“, meint Pascal Lardellier, Experte für soziale und Dating-Netzwerke an der Universität Dijon. In den westlichen Industrienationen kämen mittlerweile mehr als die Hälfte aller Verabredungen von Menschen zwischen 30 und 40 Jahren über Partnerportale zustande. Wesentlich geändert habe sich dadurch indes nichts: „Soziokulturelle Nähe spielt auch im Netz eine Rolle. Wir suchen nach Menschen, die so sind wie wir.“

Digitaler Auftakt, analoge Bewährung

In der Mythologie war dieses Motiv noch in hübsche Geschichten gekleidet: Pygmalion geht eine virtuelle Beziehung mit der von ihm geschaffenen Statue Galatea ein. Und Narziss ertrinkt, weil er sein Spiegelbild der Nymphe Echo vorzieht. Heute kommt die Selbstliebe als Urgrund aller Liebe direkter, prosaischer daher – als anonyme Interaktion im Netz.

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Dass ihnen ein Dating-Algorithmus einen Partner zuspielt, mit dem sie dauerhaft zusammen sein können, glauben Lilo Stein und Maria Dannenberg daher nicht. Zu oft haben sie die Erfahrung gemacht, dass digitale Dating-Männer „recht plump“ sind: „Das Hofmachen kennt hier kaum einer.“ Maria Dannenberg hat sich nach einem Jahr intensiver Tinderei auf dem Portal abgemeldet – nachdem sie ihren jetzigen Freund in einem Club kennengelernt hat. Noch kürzer tinderte Jan Ladleif. Der 23-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften meldete sich nach der Trennung von seiner Freundin auf der App an. „Ich wollte mal Neues ausprobieren.“ Nach wenigen Tagen hatte er sein erstes „Match“, eine junge Frau fast aus seiner Nachbarschaft. Die beiden sind ein Paar.

„Natürlich werden wir uns weiterhin im wirklichen Leben treffen, Körper begehren und schöne Geschichten aus dem wahren Leben anfangen“, meint Dating-Experte Lardellier. Doch werden wir auch die Beziehungstechnologien „und ihre Möglichkeiten immer stärker nutzen, um einander kennenzulernen“. Der Auftakt des Paarlaufens ist in Digitalien entromantisiert. Ob es dann doch die „große Liebe“ wird, wie sich 70 Prozent der Deutschen wünschen, bleibt eine analoge Bewährungsprobe und Schicksalsfrage.

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