Vorabdruck "Die Pharma-Lüge" Wie die Pharma-Branche Patienten schadet

Wirkungslose Therapien, verheimlichte Studien und vertuschte Nebenwirkungen: Der britische Arzt Ben Goldacre enthüllt, wie Unternehmen Ärzte in die Irre führen – und Patienten schädigen. Ein exklusiver Vorabdruck seines neuen Buches „Die Pharma-Lüge“.

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Bei ungünstigen Ergebnissen sind Pharmakonzerne berechtigt, ihre Testresultate geheim zu halten Quelle: Getty Images Photonica Bildbearbeitung Dmitri Broido

Im März 2006 kamen sechs freiwillige Probanden in ein Londoner Krankenhaus, um an einer Studie teilzunehmen. Ein neues Medikament mit der Bezeichnung TGN1412 wurde erstmals Menschen verabreicht, und jeder erhielt dafür rund 1750 Euro.

Innerhalb von einer Stunde bekamen die Männer Kopf- und Muskelschmerzen. Dann verschlimmerte sich ihr Zustand. Sie bekamen hohes Fieber, wurden unruhig und vergaßen zeitweise, wer und wo sie waren. Innerhalb eines Tages ging es allen katastrophal schlecht: Flüssigkeit in der Lunge, Atembeschwerden, Nierenversagen, unkontrollierbare Blutgerinnungsstörungen, und die weißen Blutkörperchen verschwanden.

Alle sechs mussten auf der Intensivstation künstlich beatmet werden. Sie produzierten keinen Urin mehr und wurden an die Dialyse angeschlossen. Ihr Blut wurde ausgetauscht, erst langsam, dann schnell; sie brauchten Plasma, rote Blutkörperchen, Blutplättchen. Das Fieber dauerte an, einer bekam eine Lungenentzündung.

Dann gelangte das Blut nicht mehr in die Extremitäten. Finger und Zehen wurden rot, dann braun, dann schwarz, begannen zu faulen und starben ab. Nur durch heldenhaften Einsatz der Ärzte kamen alle mit dem Leben davon.

Eine Katastrophe, fraglos. Doch wäre sie vermeidbar gewesen? Hätten wir Mediziner sie vorhersehen können?

Die erschreckende Wahrheit ist: Es gab Hinweise auf ein hohes Risiko des Versuchs. Nur konnte das niemand wissen, weil diese Ergebnisse der wissenschaftlichen Gemeinde nie mitgeteilt wurden. Sie lagen unveröffentlicht herum. Niemand wusste von ihnen – dabei hätten sie sechs Männern schreckliches Leid ersparen können.

Ben Goldacre Quelle: Presse

TGN1412 ist ein Molekül, das sich an einen Rezeptor namens CD28 an weißen Blutkörperchen anlagert. Das war eine neue Behandlung, die das Immunsystem auf eine neue und noch kaum verstandene Weise störte, die auch schwer in Tiermodellen nachzuvollziehen ist. Doch es gab Erfahrung mit einer ähnlichen Intervention. Ein Wissenschaftler hatte zehn Jahre zuvor an einem einzigen menschlichen Probanden eine Studie durchgeführt. Die Wirkung dieses Antikörpers hatte Ähnlichkeit mit der von TGN1412, und dem Probanden des Tests war es schlecht gegangen. Veröffentlicht wurden die Erkenntnisse jedoch nicht.

Dieser erste Wissenschaftler konnte nicht voraussehen, zu welchem Schaden er beitrug, und man kann ihm als Einzelnem kaum die Schuld geben, denn er agierte in einer wissenschaftlichen Kultur, in der das Nichtveröffentlichen von Daten als völlig normal galt. Das ist noch heute so.

War das ein Extremfall? Ist das Problem begrenzt auf Versuche mit neuen Medikamenten im frühen Entwicklungsstadium, in kleinen Gruppen? Nein. Weil es Wissenschaftlern und Pharmaunternehmen gestattet ist, Studienergebnisse nach Belieben zu unterschlagen, werden Patienten in gigantischem Ausmaß im gesamten Bereich der Medizin Leid ausgesetzt.

Wirkt ein Medikament wirklich am besten – oder wurden Patienten schlicht Daten vorenthalten? Ist dieses teure Medikament sein Geld wert, oder sind die Daten einfach beschönigt worden? Wird dieses Medikament Patienten töten? Keiner kann das sagen.

Fatale Nebenwirkungen

Wir gehen davon aus, dass die Medizin auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Ergebnissen ordentlicher Studien basiert. In Wahrheit aber sind viele dieser Studien mangelhaft.

Wir gehen davon aus, dass Ärzte die Forschungsergebnisse kennen. In Wahrheit halten die Pharmakonzerne etliche Erkenntnisse unter Verschluss.

Wir gehen davon aus, dass die Regulierungsbehörden nur wirksame Arzneimittel zulassen. In Wahrheit genehmigen sie auch miserable Präparate, deren zum Teil fatale Nebenwirkungen Ärzten und Patienten verschwiegen werden.

All das entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit, weil die Realität zu komplex ist. Deshalb hat die Politik bislang auch die wenigsten Problempunkte gelöst. Die Medizin liegt in Trümmern. Wenn Patienten erst begriffen haben, was ihnen angetan wird – mit Wissen von Ärzten, Forschern und Behörden –, werden sie aus der Haut fahren, da bin ich mir sicher.

So werden etwa Arzneimittel von denen getestet, die sie herstellen.

Das geschieht in teils dürftig angelegten klinischen Studien mit einer empörend kleinen Zahl nicht repräsentativer Patienten und mit absichtlich unzulänglichen Analyseverfahren, die dazu angetan sind, den Nutzen der jeweiligen Behandlung aufzubauschen und für den Hersteller tendenziell günstige Ergebnisse zu erbringen.

Bei ungünstigen Ergebnissen ist der Konzern berechtigt, diese den Ärzten und Patienten vorzuenthalten, sodass immer nur ein Zerrbild der wahren Wirkung eines Arzneimittels an die Öffentlichkeit gelangt. Die verfälschten Nachweise werden anschließend verfälschend kommuniziert und in die Praxis umgesetzt.

Fest steht: Studien, die von der Industrie bezahlt werden, erbringen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein positives, günstiges Ergebnis als unabhängige Studien. 2010 trugen drei Wissenschaftler aus Harvard und Toronto alle Studien zu den größten Medikamentengruppen – Antidepressiva, Krebsmedikamente und so weiter – zusammen und untersuchten zwei zentrale Fragen: War ihr Ergebnis positiv, und waren sie von der Industrie finanziert worden? Sie fanden über 500 Studien: 85 Prozent der von der Industrie finanzierten waren positiv, doch nur 50 Prozent der unabhängig finanzierten. Das ist ein sehr signifikanter Unterschied.

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