Wegen mutmaßlicher Versäumnisse im Abgas-Skandal geht die EU-Kommission gegen Deutschland vor. Die Brüsseler Behörde wirft der Bundesregierung unter anderem vor, Volkswagen nicht für die Manipulation von Schadstoffwerten bei Dieselautos bestraft zu haben. Dies teilte sie am Donnerstag mit.
Die Kommission leitete deshalb ein Verfahren wegen vermuteter Verletzung europäischen Rechts ein. Gegen Tschechien, Litauen, Griechenland, Luxemburg, Spanien und Großbritannien erhebt sie den gleichen Vorwurf.
Im Fall Deutschlands und Großbritanniens sieht die EU-Kommission noch einen weiteren Gesetzesverstoß: Beide Länder hätten der Behörde auch in ihren nationalen Untersuchungsberichten nicht sämtliche bekannten Informationen zur Verfügung gestellt. Brüssel will nachvollziehen können, ob die gewährten Ausnahmen für den Einsatz sogenannter Abschalteinrichtungen in der Abgasreinigung nötig waren.
Was die EU im Abgas-Skandal bemängelt
Das bleibt abzuwarten - noch hat die EU-Kommission ja nicht offiziell bekanntgegeben, ob sie wirklich gegen Deutschland vorgeht. Grundsätzlich sind zwei Vorwürfe denkbar: Die Brüsseler Behörde könnte Staaten vorwerfen, dass ihre Aufsichtsbehörden den Autobauern nicht genau genug auf die Finger geschaut haben. Und sie könnte bemängeln, dass die Behörden Rechtsverstöße der Konzerne nicht konsequent genug geahndet haben.
Bisher teilt das Bundesverkehrsministerium nur mit, es läge von der EU-Kommission nichts vor. Generell verweist Minister Alexander Dobrindt (CSU) in der Regel auf Brüssel und fordert schärfere EU-Regeln für die Abgasreinigung von Dieselautos, insbesondere für die Abschalteinrichtungen. Zulässig sollen sie nur noch sein, wenn es trotz „bester verfügbarer“ Motortechnologie keinen anderen Schutz für den Motor gibt.
Seit 2007 sind Abschalteinrichtungen in Europa grundsätzlich verboten. In Ausnahmefällen darf die Software aber eingesetzt werden, etwa wenn sie „nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist“ oder sie nötig ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen. VW hat solche Software bei Millionen Autos eingesetzt, um Abgaswerte zu schönen, hält sie aber für vereinbar mit europäischem Recht.
Die EU-Kommission ist die Hüterin des europäischen Rechts. Vermutet sie einen Verstoß, leitet sie ein mehrstufiges Verfahren ein. Zuerst sendet sie einen Brief in die jeweilige Hauptstadt und gibt der Regierung Gelegenheit zur Stellungnahme. Wenn sich die Kommission und das Land nicht einigen, schreibt Brüssel einen zweiten Brief und stellt ein Ultimatum, um den vermuteten Missstand zu beheben. Als letztes Mittel sind auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof möglich. Dieser kann Zwangsgelder verhängen, falls er die Vorwürfe der EU-Kommission als berechtigt einstuft.
Verfahren wegen Verletzung europäischen Rechts richten sich immer gegen Staaten, nie gegen Unternehmen oder Privatpersonen. Denn nationale Regierungen müssen europäisches Recht einhalten. In der Autobranche etwa sind Behörden in den Mitgliedsstaaten für die Aufsicht zuständig und für die Zulassung von Fahrzeugtypen.
Wenn ein Auto nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmt - etwa, weil die Hersteller es manipuliert haben, um Abgaswerte zu schönen - dann müssen die Behörden handeln und gegebenenfalls die Genehmigung zurückziehen. Zudem sieht das EU-Recht Sanktionen vor, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen. Was das heißt, müssen die EU-Staaten festlegen.
Im September 2015 setzte Dobrindt die „Untersuchungskommission Volkswagen“ ein, im April präsentierte er ihren Bericht. Demnach bestanden bei 22 getesteten Modellen unterschiedlicher Hersteller Zweifel, ob das Herunterregeln der Abgasreinigung mit dem Schutz der Motoren zu tun hat. Es wurde ein Rückruf von insgesamt 630 000 Fahrzeugen von Audi, Mercedes, Opel, Porsche und VW beschlossen, um die Technik zur Abgasreinigung zu ändern. Außerdem muss bei 2,5 Millionen Autos von VW nachgebessert werden. Zudem hat das Kraftfahrtbundesamt aufgerüstet und Technik für Tests im normalen Straßenbetrieb angeschafft.
Umweltschützer und die Opposition werfen ihm große Nähe zur Industrie vor, er verschleppe daher die Aufklärung und tue wenig für Kontrollen und Sanktionen. Ein Vertragsverletzungsverfahren hätte vor Jahren eingeleitet werden müssen, sagt Linke-Verkehrsexperte Herbert Behrens, der dem deutschen Abgas-Untersuchungsausschuss vorsitzt. Auch die EU-Kommission habe lange geschwiegen und handele „scheinheilig“. Der Grünen-Obmann im Untersuchungsausschuss, Oliver Krischer, nennt Sanktionen der EU eine „logische Konsequenz“. Dobrindt bleibe der Öffentlichkeit die Antwort schuldig, mit welchen konkreten Maßnahmen er den Abgasskandal lückenlos aufklären will.
Auslöser der inzwischen branchenweiten Affäre waren die Manipulationen von Volkswagen. Europas größter Autobauer hatte im September 2015 einräumen müssen, in den USA Testwerte zum Ausstoß gesundheitsschädlicher Stickoxide von Dieselwagen gefälscht zu haben.
Der VW-Konzern vertritt die Auffassung, dass der Einsatz seiner Abschaltsysteme in Europa legal war. Die Nutzung solcher Programme ist hier seit 2007 verboten. Es gibt aber Ausnahmen - etwa wenn Motorschäden oder eine Beeinträchtigung der Sicherheit drohen.
Der Skandal hatte unter anderem zum Rücktritt von VW-Konzernchef Martin Winterkorn und zu milliardenschweren Rückstellungen für Rechtsstreitigkeiten geführt. VW musste zudem herbe Verluste hinnehmen. Als sich bei Nachmessungen des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) dann auch auffällige Abgaswerte bei Modellen anderer Hersteller zeigten, weitete sich die Abgas-Affäre aus.
Die betroffenen Regierungen haben nun zwei Monate Zeit, um auf die Vorwürfe zu antworten. Danach kann die EU-Kommission den nächsten Schritt des Verfahrens einleiten, das am Ende zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) führen kann.