WirtschaftsWoche: Bei Volkswagen beginnt das große Reinemachen, mit dem Golf wird die erste wichtige Baureihe zurückgerufen. In den USA erhalten betroffene Kunden zudem 5000 Dollar Schadensersatz – in Europa sollen sie leer ausgehen. Würde es der Marke VW helfen, den europäischen Kunden das gleiche anzubieten?
Jürgen Gietl: Die Kunden leben in einer transparenten Welt, also merken die Deutschen, dass sie schlechter behandelt werden als die Amerikaner. VW stärkt damit den Eindruck, dass es wichtiger ist, die eigene Haut zu retten, als die durch die Manipulation entstandenen Nachteile für die Käufer auszugleichen. Dass in den USA eine Entschädigung gezahlt wird, liegt allerdings eher an den rechtlichen Rahmenbedingungen dort, nicht an den Kunden. All das wird aus Kundensicht sicher nicht als integer wahrgenommen – und das ist problematisch.
Inwiefern?
Wenn es um das Thema Vertrauen und Reputation geht, ist Integrität für Marken eines der wichtigsten Kriterien. VW steht vor dem Problem, dass sie auf der einen Seite den finanziellen Schaden so gering wie möglich halten und auf der anderen die Reputation zurückgewinnen müssen. Von außen ist es schwer zu beurteilen, was in Anbetracht dessen finanziell und technisch notwendig ist, um den Konzern aus dieser schweren Lage zu befreien.
Wie kann VW zumindest die Reputation zurückgewinnen?
Als erstes muss die VW-Führung persönliche und unternehmerische Vorteile in den Hintergrund rücken und sich wieder auf den Kunden beziehen. Aktuell gewinnt man den Eindruck, Kunden spielen überhaupt keine Rolle mehr – Entscheidungen werden nur aus finanziellem Kalkül getroffen. Der Schaden an der Marke ist ohnehin schon enorm. In der aktuellen Situation am Kunden zu sparen, ist strategisch nicht sinnvoll. Noch wichtiger ist es aber, dass das, wofür Volkswagen steht, wieder zum Auftritt der Konzern- und Markenführung passt. Die Marke muss das halten, was sie verspricht und wofür sie steht.
Wie VW die „Dieselgate“-Drahtzieher finden will
Über ein halbes Jahr VW-Abgas-Skandal und eine entscheidende Frage ist weiter ungeklärt: Wer sind die Drahtzieher des Betrugs, der den größten Autobauer Europas in die schwerste Krise seiner Konzerngeschichte gestürzt hat? Der mächtige VW-Aufsichtsrat hat als Reaktion darauf im Oktober die US-Anwaltskanzlei Jones Day mit einer umfassenden Untersuchung beauftragt, um den Fall aufzuklären. Bis Ende April sollte ein erster Zwischenbericht vorgelegt werden. Diesen hat Volkswagen inzwischen auf unbestimmte Zeit verschoben – eine Veröffentlichung vor der Einigung mit den US-Behörden könne die Verhandlungsposition schwächen, so die Begründung. Der Abschlussbericht soll bis Ende des Jahres folgen.
VW muss zeigen, dass der Konzern die Affäre um manipulierte Emissionstests ernst nimmt und bei der Aufarbeitung nichts vertuscht wird. Das Unternehmen hat zwar Fehlverhalten eingestanden, aber auch immer wieder mit Relativierungen den Unmut der US-Ermittler auf sich gezogen. Anfangs wurde der Abgas-Betrug als „Unregelmäßigkeit“ bezeichnet, im Januar stellte Konzernchef Matthias Müller den Skandal – hausintern als „Diesel-Thematik“ abgetan – dann als „technisches Problem“ dar und sorgte damit für Empörung. Mit einer schonungslosen Aufklärung durch Jones Day könnte VW die wegen möglicher krimineller Vergehen ermittelnde US-Justiz milde stimmen.
VW dürfte auch ein starkes eigenes Interesse daran haben, die Schuldigen ausfindig zu machen. Es geht neben hohen Rechtskosten um die Frage, ob die Manipulationen das Werk einer kleinen Gruppe oder einer Unternehmenskultur sind, die der skrupellosen Trickserei zugeneigt war. Das von US-Klägern gezeichnete Bild einer Verschwörung bis in die Chefetage herauf streitet der Konzern vehement ab. Die Untersuchung soll dafür nun Belege liefern. VW glaubt, den Ursprung des Diesel-Debakels weitgehend nachvollziehen zu können. Der Konzern geht nicht von einem einmaligen Fehler, sondern von einer Fehlerkette aus. Wer jedoch auf konkrete Namen von Verantwortlichen hofft, dürfte enttäuscht werden.
Volkswagen muss die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen schützen. Erst wenn in einem nächsten Schritt die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren einleiten würde, könnten die Namen auch öffentlich genannt werden. Dies würde aber auch der Behörde obliegen. Am Ende dürfte deshalb eher eine Art Chronologie der Ereignisse stehen, in der haarklein die Abläufe vermerkt sind, die im größten Skandal der Konzerngeschichte endeten. Nichtsdestotrotz ist es Ziel von Jones Day, den Sachverhalt im juristischen Sinne aufzuklären. Die Erkenntnisse müssen nicht nur plausibel und stimmig, sondern auch gerichtsfest sein. Deshalb wurden die betroffenen Personen auch von den Ermittlern verhört und ihre Aussagen protokolliert.
An der Aufklärung sind rund 450 interne und externe Experten beteiligt. Die Untersuchungen erfolgen in einem zweigeteilten Prozess: Die interne Revision, für die Experten aus verschiedenen Konzernunternehmen zu einer Task Force zusammengezogen wurden. Sie fokussiert sich im Auftrag von Aufsichtsrat und Vorstand auf die Prüfung relevanter Prozesse, auf Berichts- und Kontrollsysteme sowie die begleitende Infrastruktur. Ihre Erkenntnisse stellt die Revision den externen Experten von Jones Day zur Verfügung. Die Kanzlei führt unter anderem die forensischen Untersuchungen durch und wird dabei operativ vom Wirtschaftsprüfer Deloitte unterstützt.
Die externen Ermittler müssen gigantische Datenmengen sichten. Laut Volkswagen wurden 102 Terabyte gesichert. Das entspricht umgerechnet etwa 50 Millionen Büchern. Mehr als 1500 elektronische Datenträger von rund 380 Mitarbeitern wurden dafür eingesammelt. Da niemand diese Menge an Daten lesen kann, müssen sie mit Suchmaschinen durchleuchtet werden. Ein Problem war dabei, dass die Beteiligten für den Schriftverkehr über die Manipulationen nur Codewörter benutzten – etwa „Akustiksoftware“ für das „defeat device“. Schlagwörter wie die im Skandal zentralen Begriffe „NOx“ oder „Stickoxide“ waren tabu. Wie groß die Datenmasse ist, zeigt ein Vergleich mit den „Panama Papers“, die derzeit Schlagzeilen machen. Sie umfassen 2,6 Terabyte. Mehr als 400 Journalisten brauchten ein Jahr für die Analyse.
Ob Zündschloss-Skandal bei der Opel-Mutter General Motors (GM) oder Airbag-Debakel beim japanischen Zulieferer Takata: Nach der Beteuerung „vollumfänglicher Kooperation“ mit den Behörden ist die interne Untersuchung mit Hilfe bekannter Kanzleien fast immer der nächste Schritt, wenn es für Großkonzerne kritisch wird. Genauso verbreitet wie die Praxis an sich ist allerdings auch die Kritik, dass es sich dabei eher um ein strategisches Alibi-Instrument des Krisen-Managements handelt als um ein wirkliches Bekenntnis zur entschlossenen Aufdeckung von Missständen. Bei den tödlichen Pannenserien von GM und Takata blieben die Vertuschungsvorwürfe trotz Untersuchungen durch externe Prüfer bestehen.
Und das wäre?
Die Marke VW steht für begehrliche Autos, die mit höchster Qualität, Innovationskraft und Wertbeständigkeit aufwarten. Dabei bewegen sie sich in einer Preislage, die diese Vorteile vielen Kunden zugänglich macht. Jetzt gilt es, das gesamte Unternehmen wieder dementsprechend zu führen, um wieder glaubwürdig nach außen kommunizieren zu können.