Mehr als nur eine Kochstelle Die Küche ist das liebste Statussymbol der Deutschen

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Die tiefe Sehnsucht nach dem analogen Raum

Die Ostwestfalen, deren Küchen im Durchschnitt mehr als 15 Jahre genutzt werden, bekennen sich zu „zeitloser Eleganz“. Man bietet Lösungen für unterschiedliche „Stilwelten“: Das kann pure Coolness sein, kompakter, griffloser Minimalismus, mit durchlaufendem Furnierbild, noble Klassizität in Gestalt kassettierter Schrankfronten in „Schwarzmatt“, aber auch „urbanes“ Ambiente mit Essbar und Kräutergarten. Sogar ein Küchenbüfett ist neuerdings im Angebot.

Die Elektrogeräte, vom Dampfgarer bis zum Kaffeeautomaten, verschwinden meist hinter den Kulissen des Designs, im sogenannten Stauraum, der mit Rauchkastanie und weichem Flock ausgekleidet ist. Selbst die Kochstelle wird unsichtbar, wenn das Induktionsfeld fugenlos in die Arbeitsplatte übergeht, und die Dunstabzugshaube über dem Herd weicht zunehmend der Muldenlüftung neben dem Kochfeld.

Die Küche soll nicht mehr als Produktionsstätte, sondern als Komfortzone wahrgenommen werden, als „Zentrum des Lebens“. Siekmann will den Küchenraum durch Atmosphären bereichern, mit Sideboards, offenen Regalen und Wandpaneelen aus Holz oder Goldbronze.

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Ob in der schönen neuen Wohnküchenwelt überhaupt noch gekocht wird? Eine offene Frage, verlässliche Zahlen gebe es nicht, sagen die Hersteller. Sie vertrauen darauf, dass bei abnehmender Kochlust am Werktag sich die Küchenfreunde am Wochenende am Herd treffen. Marc O. Eckert, Chef des Küchenherstellers Bulthaup, beobachtet, dass seit den Achtzigerjahren, als der Designer Otl Aicher mit der Kochinsel das Kochen buchstäblich in die Mitte der Bulthaup-Küche rückte, auch die Kommunikation immer wichtiger wird. Das Zentrum der Küche, ihr „Herzstück“, sei der Tisch, ein „Ort der Komödie und Tragödie“, eine Einladung zu „mehr menschlicher Resonanz“. Entscheidend sei die „seelische Essenz“ des Küchenraums, die Art, wie er belebt wird.

„Form follows function“, gewiss, doch sie muss den Menschen dienen. Bulthaup gibt dazu Handreichungen in Form guter Gestaltung, die auf das Wesentliche zielt. Also kein Beeindruckungsdesign, kein digitaler Schnickschnack, sondern höchste Einfachheit, egal, was es kostet. Ein Zusammenspiel analoger Formen, mit Akzent auf der waagerechten Linie: Möbel mit horizontalem Fugenbild, so Eckert, haben eine ausgleichende Wirkung aufs Gemüt.

von Mario Brück, Thorsten Firlus, Sven Prange, Harald Schumacher

Der „Seelenraum“ Küche soll Ruhe und Balance ausstrahlen. Dazu gehört der penible Umgang mit dem Material, die sogenannte „Materialtiefe“: Was Maschinen nicht herstellen können, verlangt nach der finalen Bearbeitung durch die Hand des „Furniermeisters“, nach Schleifpapier, das die Kanten der Arbeitsplatte glättet.

Eckert stellt trotz Digitalisierung, trotz Touchscreens und Bestell-Apps eine „tiefe Sehnsucht nach dem analogen Raum“ fest, nach dem, was man „anfasst und fühlt“. Egal, ob man eine Klinge in die Hand nimmt und auf dem Brett ein Stück Brot schneidet oder am Wasserhahn dreht: Der Umgang mit dem Material, die Herkunft der Dinge machen sie zu „meiner Küche“ – „man muss sie nicht neu erfinden“, sagt der Bulthaup-Chef.

Wie das Essen umgebe die Küche etwas Archaisches. Sie ist „Feuer- und Wasserstelle“, eine Universalie, die überall funktioniert, transkulturell, in Deutschland ebenso wie in Japan oder bei den Beduinen, die am Abend aus den Zelten kommen und sich ums Feuer scharen: Die Küche lebt von der Geste der offenen Tür.

Jede Party zeigt das. Nicht im Wohnzimmer werden die interessantesten Gespräche geführt, sondern in der Küche. Nicht vor dem Bücherregal kommt man sich näher, sondern beim Blick in den Kühlschrank und in die Kochtöpfe.

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