Barry Eichengreen zur Schuldenkrise „Griechenland braucht einen Marshallplan“

Kein Wunder, dass die Griechen in der Krise eigensinnig reagieren, sagt Barry Eichengreen. Der renommierte US-Ökonom fordert in seinem Gastbeitrag einen „Marshallplan für Griechenland“ – und greift Deutschland scharf an.

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Der US-Ökonom Barry Eichengreen geht mit der Rettungspolitik der EU hart ins Gericht. Quelle: Getty Images

Wie die Griechen am Sonntag abstimmen werden ist ungewiss. Die griechischen Wähler fühlen sich „verflucht, wenn sie es tun und verflucht, wenn sie es nicht tun“. Wenn sie mit Ja abstimmen, dann folgen Jahre der Depression und der Armut. Wenn sie den Bedingungen der Gläubiger zustimmen, dann steigen die Steuern, und die Gehälter werden sinken. Da die Gläubiger auf einer Reduktion der Ausgaben bestehen, um so den Schuldenstand zu senken, wird die Wirtschaft sich wohl kaum stabilisieren oder gar zum Wachstum zurückkehren.

Bei einem Nein dagegen ist nichts als Instabilität in Sicht. Finanzminister Yanis Varoufakis glaubt, dass die Regierungen und der Internationale Währungsfonds (IWF) wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren werden, aber das ist reine Phantasie. Es wird keine Hilfe von den Institutionen mehr geben. Die Kapitalkontrollen werden verschärft, und die Einwohner werden keinen Zugriff mehr auf importierte Güter wie Benzin, Medizin und Nahrungsmittel haben. Die Banken, die bankrott gegangen sind, werden von einer Regierung verstaatlicht, die keinerlei Kapazitäten hat, sie zu betreiben. Um ihre Rechnungen zu zahlen, werden die Behörden Schuldscheine ausgeben, und dadurch wird sich das Land abwärts in Richtung Hyperinflation bewegen. Der Austritt aus der Euro-Zone und möglicherweise der Europäischen Union wäre die Folge.

Alle rätseln nun, was nun passieren soll. Mit Sicherheit sind die Folgen nicht angenehm. Das Argument für ein Nein ist, dass es nicht schlechter kommen kann, nachdem die griechische Wirtschaft und das Bankensystem ja ohnehin ruiniert sind. Diese Schlussfolgerung allerdings ist falsch.

Was also sollte nun geschehen? Und das wäre eine Antwort: Die Gläubiger müssen den griechischen Bürgern unzweideutig klar machen, dass sie mit Ja wählen sollen. Denn dann wären die Regierung von Alexis Tsipras und ihre Minister nicht mehr tragbar, da sie ein Nein empfohlen hatte. Und wenn eine neue Regierung ins Amt gewählt wird, die ernsthaft an Reformen interessiert ist, dann werden die Partner Griechenlands ein besseres Angebot vorlegen.

Die Linien dieser Übereinkunft sind klar.

Die griechische Regierung würde sich dazu verpflichten, das Steuersystem zu reformieren, die Renten zu vereinfachen, die Produktmärkte zu liberalisieren und die Staatsunternehmen zu privatisieren. Sie würde unter Beweis stellen, dass sie meint, was sie sagt. Als Gegenleistung sollten Griechenland in großem Umfang Schulden erlassen werden, also mehr als nur eine weitere Senkung der Zinsen und eine Verlängerung der Laufzeiten. Nicht nur die EU, sondern auch der IWF sollten zu einem Schuldenerlass bereit sein. Man sollte sich auf einen ausgeglichenen Haushalt einigen, nicht auf Überschüsse, die auf dem Rücken der Alten, Armen und Gebrechlichen erwirtschaftet werden.


Schuldenschnitt ist unerlässlich

Griechenland sollte Hilfe vom Ausland angeboten werden: Geld, mit dem die Banken wieder Kapital ansammeln können. Aber unverzichtbar sind auch eine Verschlankung der Finanzverwaltung, eine Neustrukturierung der bankrotten Rentenfonds und eine Modernisierung der Infrastruktur. Die EU hat Experten angeboten, die diese Prozesse fachlich unterstützen könnten. Technische Hilfe in Verbindung mit Geld das funktioniert am besten – also das Rezept, auf dessen Basis die USA nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan aufbauten. Das würde den griechischen Bürgern wieder Hoffnung auf die Zukunft geben – und genau das ist es, was sie so dringend brauchen.

Es könnte als eine Belohnung für den Eigensinn der Griechen angesehen werden, wenn man ihnen dann auch noch ein besseres Angebot unterbreitet. Aber Griechenland ist nicht von allein in dieses Desaster geraten. Das Land erhielt Unterstützung von Frankreich und Deutschland, die dem Land vor 2009 all das Geld geliehen haben. Griechenland erhielt Hilfe von der Europäischen Zentralbank, die sich 2010 geweigert hat, einer Verringerung der Schulden zuzustimmen.

Griechenland wurde unterstützt von Regierungen im Euro-Raum, welche die drakonischen Ausgabenkürzungen forderten, die das Land in die Große Depression stürzten. Das jüngste Angebot ist im Vergleich zu vorherigen Programmen nur eine geringfügige Verbesserung. Wer also kann es den Griechen verdenken, dass sie eigensinnig reagieren?

Und wenn die Voraussetzung für ein besseres Angebot ein BIP-Rückgang von 30 Prozent ist, denn genau diesen Abstieg hat Griechenland heute zu beklagen – ist es dann wirklich wahrscheinlich, dass andere Länder auf die Idee kommen, eine ähnliche „Erpressung“ zu inszenieren?

Vorschläge für eine Unterstützung von Griechenland werden in ärmeren EU-Ländern auf Widerstand stoßen. Dies ist verständlich. Aber genau deshalb sollten sie in den neuen EU-Hilfsplan miteinbezogen werden. Diese anderen Länder sind im Vergleich zu Deutschland, Frankreich und sonstigen wohlhabenden Mitgliedstaaten wirtschaftlich unbedeutend. Einer vergleichbaren Logik folgte der Marshallplan, als er andere arme europäische Länder – wie Griechenland – miteinbezog, um Deutschland und Frankreich zu helfen.

Es ist ein heikles Thema, die Bedingungen für ein Hilfsprogramm von der Zusammensetzung der nächsten griechischen Regierung abhängig zu machen. Die EU hat kein Recht, sich in die Wahlen des Landes einzumischen. Griechenland ist eine Demokratie und die Bürger haben das Recht, ihre Regierung nach eigener freier Entscheidung selbst zu wählen.

Aber die Wahl hat Konsequenzen. Im Jahr 1947 haben die USA die Ausweitung des Marshallplans auf Frankreich und Italien davon abhängig gemacht, dass diese Länder Regierungen bildeten, an denen keine Kommunisten beteiligt waren, die wirtschaftliche und politische Reformen blockierten, welche die USA für wünschenswert hielten.

Die Bürger Griechenlands werden ihre Führer und ihr Schicksal selbst wählen, so sollte es sein. Aber wenn sie am Sonntag mit Ja abstimmen und dann eine Regierung bilden, die sich klar und deutlich für Reformen ausspricht, dann sollten sie dafür belohnt werden, und man sollte es ihnen nicht neiden. Ihre Partner in der EU, die nicht in geringem Umfang zu der derzeitigen Misere beigetragen haben, schulden es ihnen.

Der Autor ist Professor für Ökonomie und politische Wissenschaften an der Universität Kalifornien in Berkeley. Barry Eichenfeld forscht in den Bereichen internationale Makroökonomie und Geschichte des Finanzsystems.

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