Wenn jetzt jemand den Hebel umlegen würde, wäre der kleine Mahim sofort tot. Der übermannshohe Bottich, aus dessen Öffnung der Junge schaut, würde sich drehen, die Holzstreben im Innern würden ihn mitreißen. Hier in Hazaribagh, dem Gerberviertel in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka, sterben Kinder so. Sie holen Leder nach dem Waschen oder Färben aus den Mixern, denn nur ihre kleinen Körper passen durch deren Luken. Das Leder, das Mahim eben aus der Trommel geworfen hat, ist hellblau – ein Hinweis auf die Behandlung mit Chromsulfat. Davon kann man Krebs bekommen.
Mahim ist neulich erst 13 Jahre alt geworden, im vergangenen Jahr kam er auf der Suche nach Arbeit mit seinem Onkel nach Dhaka. Die Armut hatte sie aus einem namenlosen Dorf weit im Norden hinein ins Elend der stinkenden Gerberei getrieben. Die Aussicht, hier jeden Tag ein wenig Geld zu verdienen, kleidet die ebenso alltägliche Gefahr, in den Arbeitsbedingungen hier sein Leben zu lassen, in einen Kokon des Ungefähren.
Wie überhaupt hier im Gerberviertel sich vieles im Ungefähren verliert. Wer für die Zustände verantwortlich ist? Man weiß es nicht. Bei welchen Modemarken das Leder später verarbeitet wird? Man ahnt, im Westen. Man weiß: eigentlich wenig.
Die umsatzstärksten Modehändler der Welt
El Corte Inglés
Umsatz 2013: 14,789 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista, Stand: 2015
The Gap
Umsatz 2013: 16,149 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Marks and Spencer
Umsatz 2013: 16,391 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Kohl's
Umsatz 2013: 19,031 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
H&M
Umsatz 2013: 19,729 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Inditex (Beinhaltet Großhandelsumsätze)
Umsatz 2013: 22,265 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
LVMH (Schätzung)
Umsatz 2013: 24,392 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
TJX
Umsatz 2013: 27,423 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Macy's
Umsatz 2013: 27,931 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Sears
Umsatz 2013: 36,188 Mrd. US-Dollar
Quelle: Statista
Man weiß nur: Bangladesch boomt als Zulieferer der westlichen Modeindustrie. Bis 2020 soll der Lederwarenexport von 1,3 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr auf mehr als fünf Milliarden Dollar wachsen. Das Ledergewerbe vollzieht also nach, was die Textilindustrie in den vergangenen Jahren vorgemacht hat: das Wachstum ihrer Geschäfte in Bangladesch.
Nun hat die Textilindustrie nach Horrormeldungen über brennende Fabriken und ausgebeutete Arbeiter immerhin Mindeststandards im Arbeitsschutz eingeführt; der deutsche Handel hat gar ein – wenn auch wachsweiches – Bündnis mit Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) geschlossen, wonach die schlimmsten Exzesse in Bangladesch künftig bekämpft werden sollen. Die Lederlieferkette aber beachtet kaum jemand.
Das Ergebnis: die Szenen vor Ort? Unvorstellbar. Die Einschätzung der Experten? Die Lederindustrie in Teilen Bangladeschs befindet sich auf mittelalterlichem Stand. Karl Borgschulze, dessen Beratungsunternehmen CSI die Branche bei der Verbesserung von Standards berät, sagt: „Handelsunternehmen kennen bestenfalls ihre Lederverarbeiter, nicht aber dessen Lieferanten. Und meistens wollen die Unternehmen gar nicht genau wissen, wie es in Gerbereien aussieht.“
Barfuß im Chemie-Bad
Und Entwicklungshilfeminister Müller sagt: „Deutsche Handels- und Modeunternehmen müssen ihre Vorstufen kennen und daran arbeiten, dass ihre Zulieferer internationale Standards einhalten.“ Bislang sei das nicht immer der Fall.
Ins Gerberviertel Hazaribagh weist einen kein Schild, aber die Nase. Je näher man diesem Ort kommt, desto intensiver wird der penetrante Fäulnisgeruch. Es ist schwer, zu sagen, ob er von den gepökelten Kuhfellen stammt, die Halbwüchsige auf Schultern schleppen, oder aus dem Innern von gut 200 Gerbereien, die sich hier drängen. Dort empfängt einen überall ein Bild wie bei der Prince Tannery Ltd.: In Wannen, teils in den Erdboden eingelassen, wenden Männer die Kuhfelle mit Zangen im Chemiebad. Alle paar Stunden ziehen sie den Pfropfen, und eine giftige Suppe aus Chrom, Sulfiten oder Formaldehyd fließt quer über den Boden in einen angrenzenden Fluss.
Laktumiah ist einer der Hilfsarbeiter, die diese Vorstufe der Modeindustrie am Laufen halten: barfuß, dünne Beine, Hohlkreuz. Er ist 55 Jahre alt und schabt mit einer Metallbürste den Speck von der Kuhhaut, nachdem sich die Haare im ersten Chemiebad vom Fell gelöst haben. Das glitschige Zeug stinkt, aber er ist zufrieden mit seinem Job. Eine Zeit lang haben sie das so gewonnene Fett noch als Nährstoff verkauft, das ist mittlerweile verboten.