Inzwischen geht der Reiz der Häuser über die Rolle als kostenloser Coworking-Space hinaus. „Wir erleben in den vergangenen Jahren eine Renaissance des Ortes“, sagt Hannelore Vogt. Die unaufhaltsame Virtualisierung der Welt gebiert zugleich den Wunsch nach dem Gegenteil. Die Menschen wollen reale Dinge erschaffen, am besten gemeinsam mit anderen.
Bibliotheken bieten dafür eine trivial klingende Qualität, die jedoch ziemlich einzigartig ist: Sie sind ein öffentlicher Raum, der noch dazu wetterfest ist. Wer sich hier aufhält, der braucht sich nicht erklären. Ob im Einkaufszentrum, im Museum oder der Volkshochschule – überall ist die Anwesenheit an eine Bedingung geknüpft: Konsum, Eintritt, Kursteilnahme. Was machen Sie hier, wie kann ich Ihnen helfen, möchten Sie etwas kaufen? In der Stadtbücherei entfallen diese Fragen. „Die Bibliothek ist der nicht kommerzielle und für jedermann zugängliche Treffpunkt in der Stadt“, sagt Vogt.
In Köln nutzen sie das besonders konsequent. Alle paar Tage werden die bunten Polstermöbel im Aufenthaltsbereich für Veranstaltungen beiseite geräumt. Die Bibliothek bietet Raum für alles, was dem großstädtischen Kreativvolk so in den Sinn kommt – wie zuletzt der „Travel Slam“. Motto des Diavortrags: „Reisende soll man nicht aufhalten, sondern erzählen lassen.“
Dabei traten drei Teilnehmer vor Publikum an, um ihren letzten Urlaubstrip zu präsentieren. Per Applaus wurde ein Sieger gekürt. Der Preis: Weitere fünf Minuten Redezeit.
Ständige Erweiterung der Zielgruppe
Bücher, TV, Streaming? Diese Medien finden die Deutschen unverzichtbar
Nur wenige Erwachsene in Deutschland können sich ein Leben ohne Bücher oder Fernsehen vorstellen. Das ergab eine repräsentative Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur aus dem Januar 2016. Andere Unterhaltungsmedien hielten die Befragten dagegen eher für entbehrlich.
Nur eine Minderheit von 13 Prozent der Befragten findet gedruckte Bücher verzichtbar. Elektronische Bücher (zum Beispiel Kindle oder Tolino) halten 41 Prozent für verzichtbar.
14 Prozent der Befragten können sich ein Leben ohne das klassische Fernsehen vorstellen.
Schon wesentlich mehr können sich vorstellen, auf Musik-CDs zu verzichten: Rund ein Fünftel (21 Prozent) der Befragten fand CDs verzichtbar. Hörbücher auf physischen Tonträgern wie CDs spielen für 46 Prozent keine allzu wichtige Rolle.
Ein Leben ohne Kinobesuche ist für 23 Prozent vorstellbar.
Auf Spielfilme oder Serien von DVD würden 24 Prozent der Befragten verzichten.
Weniger wichtig finden die Erwachsene laut der YouGov-Umfrage Online-Videotheken. 38 Prozent könnten ohne das Streaming von Serien und Filmen (etwa via Netflix, Amazon, Maxdome, Watchever) leben, 40 Prozent ohne Musik-Streaming (zum Beispiel via Spotify oder Apple).
Eindeutig ist die Tendenz, wenn man nach den Altersgruppen schaut: So finden bei den 18- bis 24-Jährigen immerhin 21 Prozent das Fernsehen verzichtbar, bei den Menschen über 55 sind es dagegen nur 10 Prozent.
Film-Streaming finden dagegen die Leute ab 55 kaum relevant: 50 Prozent können darauf verzichten, wie sie angaben. Bei den Jüngeren (zwischen 18 und 24 Jahren) sind es dagegen nur 27 Prozent, die es missen könnten. In der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre sind es sogar nur 24 Prozent
Vergleichbares hält die Bibliothek für fast jeden Spleen parat. Bei der Veranstaltung „Extraleben“ treffen sich die Freunde alter Computerspiele zum Retrogaming und vertiefen sich eine Nacht lang in die Konsolen der Vergangenheit. „Maker Kids“ heißt ein Ferienprogramm für Kinder, bei dem sie Programmieren lernen. „Die Bücherei von heute ist weder auf Bücher noch auf Medien beschränkt“, sagt die gelernte Bibliothekarin Vogt. „Sie ist ein Ort des Lernens, der Begegnung und vor allem auch des aktiven Tuns.“ Deshalb hat die Zentralbibliothek im Jahr 2013 als erste öffentliche Institution in Deutschland überhaupt einen 3-D-Drucker angeschafft. Schon seit 2008 haben sie hier verschiedene elektronische Lesegeräte, auch Brillen für dreidimensionales Computerspielen können die Besucher testen, im „Makerspace“ steht außerdem ein Gerät parat, um alte Schallplatten zu digitalisieren. „Unsere wichtigste Zielgruppe sind die Menschen zwischen 20 und 30“, sagt Vogt. Offenbar mit Erfolg: Als einzige öffentliche Institution wurde die Kölner Bibliothek auf die weltgrößte Computerspielemesse Gamescom eingeladen. Vogt empfand das als „Ritterschlag“.
Diese ständige Erweiterung der Zielgruppe ist ebenfalls ein Grund für das Wachstum der Bibliotheken. „Früher war sie nur etwas für die ganz Alten und die ganz Jungen“, sagt Vogt. Zwar ist diese Zielgruppe noch heute in der Bibliothek vertreten. Die einen erkennt man am Rascheln der Zeitung, die anderen am Klappern der Bauklötze. Dann aber wird die Geräuschkulisse überlagert vom anschwellenden Gemurmel einer 20-köpfigen Besuchergruppe, die, angeführt von einer Mitarbeiterin des Hauses, durch die DVD-Regale streunt. Einer fragt die Bibliothekarin nach „Filmen mit Hitler“. Die schaut ein wenig verdutzt, zeigt ihm dann aber ein paar Werke. Darunter „Der Untergang“ und „Schindlers Liste“ – und stellt sogleich klar: „Aber wir haben hier nichts Positives über den.“
Der Mann nickt bestätigend. Er ist Flüchtling wie die anderen zwei Dutzend Männer auch. Seit ein paar Wochen ist er in Köln, ihm sieht man solche politischen Missverständlichkeiten nach. „Irgendwann stellten wir fest, dass sich immer öfter Lerngruppen von Flüchtlingen bei uns trafen“, sagt Vogt, „da haben wir begonnen, von uns aus auf sie als Nutzergruppe zuzugehen.“ In einem Nachbargebäude wurde ein Selbstlernzentrum geschaffen, in der Bibliothek selbst gibt es jetzt regelmäßig Lerntouren für die Neuankömmlinge.