Der Königsberger Philosophieprofessor Immanuel Kant (1724 – 1804) ermahnte seine Studenten, dass sie, wenn sie die Philosophie erlernen wollten, schon selber denken müssten; dass nichts und niemand ihnen diese Aufgabe abnehmen könnte. Kants Hinweis ist nicht nur für angehende Philosophen richtungsweisend, sondern auch für alle, die investieren. Auch beim Investieren muss man sich – will man erfolgreich sein – mit der Materie selbst denkend beschäftigen. Unkritisch dem Alltagsverstand folgen, oder dem zu folgen, was alle sagen, ist ein subtiler Weg, dem Selbstdenken auszuweichen.
Nehmen wir ein Beispiel. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) wird häufig als Entscheidungskriterium angeführt. Das KGV wird ermittelt, indem man den Börsenkurs der Aktie durch den Gewinn pro Aktie des Unternehmens dividiert. Ist das KGV einer Aktie, sagen wir, 20, so bedeutet das, dass man 20 Jahre warten muss, bis der (gegenwärtige) Gewinn den Kaufpreis wieder eingespielt hat. Bei einem hohen (geringen) KGV wird die Aktie als teuer (günstig) angesehen. Und teure Aktien verkauft man, günstige kauft man. Doch was ist von dieser Entscheidungsregel zu halten?
Auf die Urteilskraft kommt es an
Schon die Ermittlung des KGV ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Welcher Gewinn pro Aktie soll verwendet werden? Wenn der Gewinn zum Beispiel durch Einmaleffekte erhöht ist, fällt das KGV niedrig aus, die Aktie wird als zu billig ausgewiesen. Oder: In inflationären Phasen werden Unternehmensgewinne in der Regel zu niedrig ausgewiesen – denn die Abschreibungen decken nicht die gestiegenen Wiederbeschaffungskosten. Der Unternehmensgewinn und damit das KGV werden künstlich aufgebläht. Allein auf Basis des KGV zu investieren, kann also leicht zu einer falschen Investitionsentscheidung führen.
KGV zur Marktbeurteilung
Häufig wird auch das KGV eines Unternehmens mit dem KGV des Gesamtmarktes verglichen. Liegt das KGV des Unternehmens über (unter) dem Markt-KGV, lautet das Urteil nicht selten, das Unternehmen sei zu teuer (günstig), und ein Verkauf (Kauf) sei angeraten. Nehmen wir an, ein Unternehmen hat ein KGV von 30, während das Markt-KGV bei 15 liegt. Begründet werde das hohe KGV des Unternehmens mit erhöhten Zukunftsgewinnen (zum Beispiel aufgrund von anstehenden Produktinnovationen). Ist es aber deswegen schon zu teuer?
Wer mit Ja antwortet, der unterstellt, dass das KGV des Unternehmens auf das Markt-KGV zurückfällt, sobald sich die Erwartung der erhöhten Gewinne bewahrheitet. Nun gibt es aber Unternehmen, die dauerhaft ein höheres KGV als der Markt aufweisen, weil sie in der Lage sind, dauerhaft eine Eigenkapitalverzinsung zu erzielen, die höher ist als die anderer Unternehmen. Solch ein Unternehmen kann daher trotz eines im Vergleich zum Markt-KGV hoch erscheinenden KGVs immer noch billig sein und für eine Investition in Betracht kommen.
Das KGV wird aber nicht nur herangezogen, um zu beurteilen, ob einzelne Aktien zu teuer oder zu billig sind, sondern Anleger verwenden das KGV häufig auch, um abzuschätzen, ob der gesamte Aktienmarkt angemessen bewertet ist oder nicht. Liegt dabei das aktuelle Markt-KGV über (unter) seinem historischen Durchschnitt, werden die Kurse als teuer (billig) eingestuft – und die Empfehlung lautet Verkauf/Nichtkauf (Kauf). Ein solches Vorgehen setzt zwar an einem gut begründeten Gedanken an: Gesamtwirtschaftlich betrachtet, können sich Aktienkurse und Unternehmensgewinne nicht beliebig weit und dauerhaft auseinanderentwickeln.