WirtschaftsWoche: Herr Nida-Rümelin, Sie entwickeln in Ihrem neuen Buch eine „Ethik der Migration“. Wie fällt Ihr Urteil über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung seit 2015 aus?
Nida-Rümelin: Der Impuls, ein paar Tausend syrischen Flüchtlingen in Ungarn zu helfen, ist absolut nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist, dass daraus eine Politik der offenen Grenzen folgen sollte. Die Kanzlerin tat zumindest nichts, um diesen Eindruck zu korrigieren. In der Folge entstand ein Pull-Effekt: Viele Leute machten sich auf, die das eigentlich gar nicht vorhatten. Wenn das über zwei Jahre weitergegangen wäre, hätte es eine deutliche Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung ergeben. Darüber hätte der Bundestag entscheiden müssen. Und wenn man das Dublin-Verfahren außer Kraft setzt, ist das eine grundlegende Veränderung der EU-Politik, das darf ein Staat nicht einseitig dekretieren.
Grenzen sind für viele Menschen nur noch zum Einreißen da. Nun wollen Sie das Image der Staatsgrenze retten.
Die Rolle von Staatsgrenzen muss man im historischen Zusammenhang sehen. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, den ich in seinen Kernaussagen unterstütze, machte ein sympathisches Versprechen: Gebt Freiheit, reißt die feudalen Strukturen ein, baut Grenzen ab, dann gedeiht die Wirtschaft, und die Welt verbessert sich. Aber der Liberalismus ist übers Ziel hinausgeschossen.
Inwiefern?
Die wirtschaftliche Dynamik seit Anfang des 19. Jahrhunderts hängt zwar mit der Beseitigung überkommener Strukturen zusammen, etwa mit der Aufhebung des Zunftwesens. Aber wir kennen auch die Kosten: Verelendung in den Städten, etwa durch die Auflösung gewachsener Solidargemeinschaften. Der moderne Staat reagierte, indem er neue Strukturen schuf: Bismarcks Reichsversicherungsordnung zum Beispiel. So etwas erfordert politische Gestaltungskraft.
Und die hat sich verflüchtigt?
Der derzeitige Nationalismus ist eine Reaktion auf das Gefühl des Kontrollverlusts. „Take over control again“ war ein Spruch der Brexit-Befürworter. Darin steckt eine zentrale Frage der nächsten Jahrzehnte: Welche Rolle spielt die Staatlichkeit, und welche Rolle spielen Grenzen für diese? Ist politische Gestaltungskraft vereinbar mit einem grenzenlosen, entfesselten, globalen Arbeitsmarkt? Ich bin da skeptisch.
Zur Person
Julian Nida-Rümelin, 62, war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder und ist seit 2004 Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians- Universität in München.
Die meisten Ökonomen sind migrationsfreundlich und versprechen Nutzen für alle. Liegen sie falsch?
Sie übersehen, dass diese Vorteile nur auftreten in einer Welt, die noch Grenzen hat und in der die Wanderungsbewegungen überschaubar bleiben. Die traditionellen Einwanderungsländer – USA, Australien, Kanada – haben nicht erst seit Trump geschlossene Grenzen. Auch Obama nahm nur wenige syrische Flüchtlinge auf. Mit offenen Grenzen würden wir eine unüberschaubare Dynamik in Gang setzen, weil erfolgreiche Einwanderung in wohlhabende Gegenden ein Beweggrund für andere ist nachzuziehen. „No borders“ würde die Staaten bestrafen, die besonders günstige sozialstaatliche Bedingungen bieten. Es ist kein Zufall, dass Deutschland, Österreich und Schweden 2015 die Hauptziele waren.
Die Forderung nach einer grenzenlosen Welt wird von einem Bündnis aus linken Idealisten und Wirtschaftsinteressen getragen – ohne dass beide sich dieses Bündnisses bewusst sind.
Man kann es polemisch zuspitzen: Den Libertären, die ganz auf den freien Markt setzen, ist nicht klar, dass das im Kern eine anarchistische Idee ist. Fernando Pessoa hat das in seiner Erzählung „Ein anarchistischer Bankier“ vorgeführt. Die Linken merken nicht, dass sie markt-radikal argumentieren. Beide Seiten ignorieren: Optimierung funktioniert immer nur innerhalb von verlässlichen Strukturen. Wenn sie alle Regeln sprengt, unterminiert das am Ende den wirtschaftlichen Erfolg.