Frau Wagenknecht, wenn Ludwig Erhard heute noch leben würde, welche Partei würde er wählen?
Ludwig Erhard steht für den Anspruch, Wohlstand für alle zu schaffen. Wer diesen Anspruch ernst nimmt, kann heute eigentlich nur noch die Linke wählen. Das würde Erhard wahrscheinlich nicht tun, aber er wäre mit Sicherheit auch kein Anhänger der Parteien der Großen Koalition. Die Politik der letzten 20 Jahre hat dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr gut leben können und viele Angst vor Altersarmut haben. Ganze 40 Prozent der Bevölkerung haben heute real weniger Einkommen als Ende der Neunziger. Das ist das Gegenteil von "Wohlstand für alle".
Den Anspruch „Wohlstand für alle“ verfolgen alle Parteien. Wo sehen Sie im Programm der Linken denn konkrete Schnittmengen mit Erhard?
Erhard stand den Ordoliberalen um den Ökonomen Walter Eucken nahe. Eucken hat früh erkannt, dass eine Marktwirtschaft nur funktioniert, wenn die Konzentration von Wirtschaftsmacht in wenigen Händen verhindert wird. Das wurde später leider völlig vergessen. Heute subventioniert und privilegiert die Politik die Großanbieter, auch steuerlich. Das halten wir für grundfalsch. Es ist eingetreten, was Eucken befürchtet hatte: die Existenz von Wirtschaftsmacht bedeutet auch, dass politische Entscheidungen beeinflusst, teils sogar schlicht gekauft werden.
Sie sprechen jetzt von Eucken, nicht von Erhard…
Die Ordoliberalen forderten einen Staat, der Regeln setzt und aktiv eingreift, um fairen Leistungswettbewerb zu gewährleisten. Sie verlangten damals auch von Erhard ein Kartellrecht mit Biss und waren über das am Ende verabschiedete Kartellgesetz zu Recht enttäuscht. Zumal unter Erhard die Bemühungen, die Konzerne und Großbanken zu entflechten, die sich durch ihre Kooperation mit dem Naziregime zutiefst diskreditiert hatten, irgendwann eingestellt wurden. Insofern ist seine Bilanz widersprüchlich.
Zur Person
Sahra Wagenknecht ist eine deutsche Politikerin. Ihre politische Karriere begann sie bei der PDS. Seit September 2009 ist Wagenknecht Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Seit Oktober 2015 ist sie Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke.
Auch der damalige Bundeskanzler Adenauer hatte Erhard ausdrücklich dafür kritisiert, dass Erhard bei der Frage der Dekonzentration nicht schnell genug agierte. Aber haben die Linken nicht ein Faible für Staatskonzerne? Müssten Sie nicht begeistert sein, dass Erhard bei Staatskonzernen zurückhaltend war?
Wir fordern gemeinwohlorientierte kommunale Unternehmen für die Daseinsvorsorge, aber nicht Staatskonzerne. Uns geht es um bezahlbares Wohnen und faire Strompreise. Das ist nicht zu gewährleisten, wenn diese Bereiche privaten Renditejägern überlassen werden. Das Unwesen sogenannter öffentlich-privater-Partnerschaften, bei denen die öffentliche Hand alle Risiken trägt und die privaten Unternehmen sichere Renditen einstreichen, hätte Erhard mit Sicherheit ebenso gruselig gefunden wie wir.
Drei Fakten zu Ludwig Erhard
Der 20. Juni 1948 (Währungsreform) und der 24. Juni 1948 (Freigabe der Industriepreise) sind so etwas wie inoffizielle Gründungsdaten der Bundesrepublik: Als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der besetzten Bizone schuf Ludwig Erhard den (west-)deutschen Staat aus dem Geist der sozialen Marktwirtschaft, noch bevor er sich rechtlich konstituierte.
Die großen Wahlerfolge der CDU 1953 und 1957 waren zu großen Teilen das Verdienst von Ludwig Erhard. Als Wirtschaftsminister unter Kanzler Konrad Adenauer verband er den – internationalen – Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland höchst erfolgreich mit dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft.
Mit „Wohlstand für alle“ schrieb Ludwig Erhard 1957 sein ordnungspolitisches Manifest: Wohlstand durch Wettbewerb. Erwirtschaften vor Verteilen. Mündiger Bürger statt sozialer Untertan. In seinen Kanzlerjahren (1963–1966) hat er die neoliberale Theorie erfolglos mit dem Begriff einer arbeitsteilig „formierten Gesellschaft“ zu aktualisieren versucht.
Das heißt, Sie teilen den Hype um Erhard nicht?
Hypes sind meistens überzogen. Ludwig Erhard hat Wichtiges geleistet. In anderen Fragen ist seine Bilanz nicht überzeugend. Er war Wirtschaftsminister in einer Zeit, als die Grundlagen für den Wiederaufbau Deutschlands gelegt wurden. Richtig war seine Position, dass nur dann von einer sozialen Marktwirtschaft die Rede sein kann, wenn die Löhne mit der Produktivität wachsen. Das haben wir seit vielen Jahren nicht mehr. Richtig war auch sein Anspruch, Aufstiegschancen für alle zu schaffen. All das ist heute Programm der Linken.
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